29. Annalise-Wagner-Preis
COVER © Steffen Media | Dr. Elke Pretzel © privat |
Dr. Elke Pretzel:
Eine gebrochene Sammlung.
Die Städtische Kunstsammlung in Neubrandenburg (1890-1945)
Rekonstruktion der während des Zweiten Weltkrieges verlustig gegangenen Sammlung als Beispiel für Kulturgutverluste kleinerer Museen in Mecklenburg
Dissertation, Philosophische Fakultät der Universität Greifswald, 2019
Friedland : Steffen Media, 2020 (Edition Lesezeichen) ISBN 978-3-941681-61-3
631 S. : zahlreiche Abbildungen
Enth. u. a. Quellennachweis S. 326-376, autorisierte Gesprächsprotokolle S. 377- 397, Katalog der zurückerlangten Werke der Städtischen Kunstsammlung S. 398-629
Der 29. Annalise-Wagner-Preis wird unterstützt von
der Neubrandenburger Stadtwerke GmbH
und dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.
Die Annalise-Wagner-Stiftung dankt herzlich!
„Kultur trotzt Corona“: Die Annalise-Wagner-Stiftung vergibt auch in diesem Jahr den mit 2500 Euro dotierten Annalise-Wagner-Preis an einen hervorragenden Text mit Bezug zur Region Mecklenburg-Strelitz im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Unterstützt wird die Vergabe von der Neubrandenburger Stadtwerke GmbH und dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.
Aus 69 Bewerbungen und Vorschlägen hat die Jury im Jahr 2020 zum 3. Mal in der Stiftungsgeschichte eine Hochschulschrift ausgewählt. Ausgezeichnet wird die kunstwissenschaftliche Dissertation von Dr. Elke Pretzel aus Jürgenstorf im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Sie setzt sich auseinander mit dem Thema: „Eine gebrochene Sammlung. Die Städtische Kunstsammlung Neubrandenburg (1890-1945) ; Rekonstruktion der während des Zweiten Weltkrieges verlustig gegangenen Sammlung als Beispiel für Kulturgutverluste kleinerer Museen in Mecklenburg“. Die Publikation ist Bestandteil des Promotionsverfahrens an der Universität Greifswald, lag der Jury im Manuskript vor und wurde im Juni 2020 veröffentlicht in der „Edition Lesezeichen“ bei Steffen Media (ISBN 978-3-941681-61-3).
Diese Dissertationsschrift ist eine „im allerbesten Sinne grundlegende Arbeit“ von „exemplarischer Qualität“, in der sich kunstwissenschaftliche wie gesellschaftliche „Relevanz und Aktualität“ verbinden. „Auf der Grundlage langjähriger und akribischer empirischer Forschungen, durchgehend faktenbasiert und methodisch breit aufgestellt“ macht sie eine „verlorene Kunstsammlung wieder sichtbar“: Sie gibt der vor 130 Jahren gestifteten, vor 75 Jahren am Kriegsende verschollenen, bis vor 30 Jahren fast vergessenen historischen „Städtischen Kunstsammlung Neubrandenburg“ (1890-1945) „wieder ein Gesicht“. [1]
Trotz schwieriger Quellenlage zeichnet die Autorin mit Präzision und mit weitem kulturgeschichtlichem Blickwinkel ein farbiges, nuancenreiches, komplexes Bild von 55 Jahren „gebrochener Geschichte“ dieses Neubrandenburger Kunstmuseums, in dem sich die Brüche der Zeitgeschichte widerspiegeln. Dabei spielt auch die zwischen 1945 und 1990 „gebrochene Erinnerung“ an den kriegsbedingten materiellen und ideellen Kulturgutverlust eine wichtige Rolle und es geht um Probleme und Chancen von Erforschung, Rekonstruktion und neuer Verankerung dieser „Kunst-Geschichte(n)“ im „Gedächtnis“ von Stadt und Region.
Überraschend detailreich entdeckt der Leser, wie diese Kunstsammlung von zwei Neubrandenburger Bürgern gestiftet wurde und sich entwickelte, welche materiellen bzw. künstlerisch-ästhetischen Werte sowie bürgerschaftliche Traditionen sie in die Stadtgesellschaft einbrachten, welche Fakten den Verlust der Sammlungsobjekte am Kriegsende belegen und welche Rolle dieser Verlust nach 1945 in der städtischen Erinnerungskultur spielte. Leuchtkraft und Ausstrahlung erhält dieses Bild durch weit gefasste zeitgeschichtliche und regionalhistorische, kunst-, museums- und kulturgeschichtliche Kontexte.
Zur kunstwissenschaftlichen Rekonstruktion dieser „verlorenen Neubrandenburger Sammlung“ gehört die Auseinandersetzung mit dem Thema „kriegsbedingt vermisste Kulturgüter“. Ein berührender Blick in die 1945 „abgebrochene“ Geschichte“ öffnet sich u. a. mit dem „Katalog der zurückerlangten Werke“, der den „Scherben-Fund von 2006“ erschließt. Eindrücklich wird vermittelt, dass diese physisch zerstörten Objekte eine „hohe ideelle und moralische Botschaft in sich tragen“, in ihren Brüchen und Verletzungen das „Sichtbarmachen der eigenen Geschichte“ ermöglichen und ihre Aufnahme in die Dauerausstellung der heutigen Kunstsammlung Neubrandenburg ein Stück „zurückgewonnene Identität“ [2] bedeutet.
Die Dissertationsschrift von Dr. Elke Pretzel gehört zu den ersten, die „gebrochene Geschichten“ und kriegsbedingte Kulturgutverluste speziell von kleineren Museen und Kunstsammlungen in Mecklenburg und in Ostdeutschland wissenschaftlich beleuchten. Sie kann „zum Bezugspunkt werden für weitere regional oder überregional angelegte Studien, die bisher weitestgehend fehlen[3] - und „als erfolgreiches Modellbeispiel … eine Ermutigung und Handreichung für kleinere Museen mit ähnlich schwieriger Quellenlage“ [4] sein.
Auch über den kunstwissenschaftlichen Rahmen hinaus kann dieser wissenschaftliche Text viele Interessierte erreichen, weil es der Autorin gelingt, das akribisch mit Fakten untermauerte Bild der Städtischen Kunstsammlung Neubrandenburg so farbig auszumalen, logisch aufzubauen und gut verständlich zu beschreiben, dass der Leser leicht und fasziniert Zugang findet.
So können diese „Kunst-Geschichte(n)“ insbesondere in Neubrandenburg „neue Impulse“ geben für die „Wahrnehmung eigener (Kultur-)Geschichte als „Facette der städtischen Identität“[5] oder für die Auseinandersetzung mit der „gebrochenen Geschichte“ der städtischen Zivilgesellschaft. Sie erzählen nicht zuletzt vom Wert und von Wertschätzung des Bürgerengagements für Kunst und Kultur in Neubrandenburg, von gemeinnützigen Stiftungen und Stifterpersönlichkeiten oder der Tradition des Kunstvereins. Das sind Aspekte, die auch in Annalise Wagners Publikationen zur Städtischen Kunstsammlung Neubrandenburg eine besondere Rolle spielten, die wiederum zu den „wichtigen und verlässlichen Quellen“ für das Engagement von Dr. Elke Pretzel gehören.
Im Thema „Bürgerengagement“ schließt sich auch ein Kreis zur Autorin.
Dr. Elke Pretzel ist seit 1988 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunstsammlung Neubrandenburg, die 1981 neu begründet wurde. Nach 1990 nahm diese Institution die Suche nach Informationen zu Geschichte und Kulturgutverlusten ihrer historischen Vorgänger-Einrichtung auf und erinnert heute in ihrer Dauerausstellung daran. Elke Pretzels Forschungen fußen im dienstlichen Auftrag, doch die akribische, schwierige Spurensuche führten sie weit darüber hinaus.
Regelmäßig veröffentlichte sie ihre Forschungsergebnisse zur „Geschichte einer verlorenen Sammlung“ (2001, 3. Aufl. 2012), übernahm ab 2003 die Zusammenarbeit mit der Datenbank Lost Art der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste / Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste und gab das „Verzeichnis der kriegsbedingt vermissten Gemälde, Grafiken, Porzellanarbeiten und Skulpturen …“ heraus (2004, korrigiert 2013). Als 2006 die „Scherben-Funde“ als Überreste der historischen Städtischen Kunstsammlung identifiziert werden konnten, initiierte sie eine Erstausstellung der Funde, begleitete wissenschaftlich die sensible, sichtbare Rekonstruktion einzelner Figuren, kuratierte das 2014 eröffnete Ausstellungskabinett mit „verletzten Neubrandenburger Fragmenten“ und inspirierte das „Brandzimmer“, eine Rauminstallation des Künstlers des Künstlers Simon Schubert, die seit 2018 als Teil der Dauerausstellung eindrucksvoll an den Verlust der historischen Kunstsammlung erinnert. Der „Scherben-Fund“ wurde auch zum Auslöser von Elke Pretzels Entscheidung, den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der „Städtischen Kunstsammlung Neubrandenburg“ und ihren Kulturgutverlusten wissenschaftlich in Form einer Dissertation aufzuarbeiten.
Ihr Engagement für die „verlorene Sammlung“ wurde zur Herzenssache und ein Stück weit zur Lebensaufgabe, die „nebenberufliche“ Promotion „mit über Fünfzig“ zu einer Herausforderung, deren Ergebnis mit „magna cum laude“ eine sehr gute wissenschaftliche Bewertung fand.
Den Bürgerengagement-Gedanken lebt Dr. Elke Pretzel aktiv auch über ihren Einsatz für die „gebrochene Sammlung“ hinaus: Sie engagiert sich seit 1990 als Vorstandsmitglied des Freundeskreises der Kunstsammlung Neubrandenburg und seit 2006 im Vorstand der Mertens-Günteritz-Stiftung. Ganz andere Seiten der Stadtkultur bringt sie im Verein JazzConnection e.V. zum Klingen, ab 2013 als Festivalleiterin des „Neubrandenburger Jazzfrühlings“. Seit 2011 ist sie Mitglied der Hauptversammlung der Mecklenburgischen Versicherungsgruppe.
Jurybegründung (Download als PDF)
Presseinformation, lang (Download als PDF)
Presseinformation, kurz (Download als PDF)
Presse (Auswahl)
Helga Klehn: Das Beste für die Kunst. Eine Frau mit Beharrlichkeit und Begeisterung: Elke Pretzel. – Kulturkalender Mecklenburg-Vorpommern 03 (2021). – S. 43 (PDF)
Susanne Schulz: Vom Scherbenhaufen zum Lebenswerk: „Eine gebrochene Sammlung“ heißt die Doktorarbeit, die Elke Pretzel über eine tiefe Wunde der Region geschrieben hat… – In: Nordkurier : Neubrandenburger Zeitung (2020-06-13/14). – S. 22 (Download als PDF)
Susanne Schulz: Vom Scherbenhaufen zum Lebenswerk ... - In: Nordkurier : Stadtmagazin Neubrandenburg (Juli 2020). – S. 24-25 (Download als PDF)
Verleihung des Annalise-Wagner-Preises. – In: Nordkurier : Neubrandenburger Zeitung (2020-09-23) s. 13 (PDF)
Preisverleihung
Die öffentliche Verleihung des 29. Annalise-Wagner-Preises
fand statt am europäischem „Tag der Stiftungen“, dem 1. Oktober 2020, im Kulturquartier Mecklenburg-Strelitz in Annalise Wagners Heimatstadt Neustrelitz.
Einladung (PDF), Anmeldung (PDF)
Entsprechend der Vorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie war die Zahl der zulässigen Besucher eng begrenzt auf wenige Gäste aus dem engsten Familien- und Freundeskreises der Preisträgerin. Ein besonderes Zeichen der Wertschätzung setzten mit ihrer Teilnahme der Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg, Herr Silvio Witt, der Bürgermeister der Stadt Neustrelitz, Herr Andreas Grund, sowie der Geschäftsführers der Neubrandenburger Stadtwerke GmbH, Herr Ingo Meyer.
Eine Ehre und Freude war für Preisträgerin wie Stiftung,
dass ein herausragender Kunsthistoriker mit den Forschungsschwerpunkten Provenienzforschung und Museumsgeschichte
die Laudatio für Dr. Elke Pretzel hielt:
Herr Prof. Dr. Gilbert Lupfer
ist seit Mai 2020 hauptamtlicher Vorstand der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Diese Stiftung des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände ist national und international der zentrale Ansprechpartner zu Fragen unrechtmäßiger Entziehungen von Kulturgut, das sich heute in Sammlungen deutscher kulturgutbewahrender Einrichtungen befindet. Es fördert unterstützt und vernetzt Provenienzforschung. Das Hauptaugenmerk des Zentrums gilt dem im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz (sog. NS-Raubgut). Daneben zählen kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter (sog. Beutegut) sowie Kulturgut-verluste während der sowjetischen Besatzung und in der DDR zu den Handlungsfeldern. Seit April 2018 befasst sich das Zentrum zudem mit Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und fördert auch in diesem Bereich Forschungsprojekte.
Herr Prof. Dr. Lupfer ist seit 2002 Mitarbeiter der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, ab 2008 Leiter des »Daphne«-Projektes für Provenienzforschung, Erfassung und Inventur; ab 2013 auch Leiter der Abteilung Forschung und wissenschaftliche Kooperation. Seit 2007 wirkt er zudem als außerplanmäßiger Professor für Kunstgeschichte am Institut für Kunst- und Musikwissenschaft der TU Dresden.
Prof. Dr. Lupfers Engagement für den 29. Annalise-Wagner-Preis setzt am „Tag der Stiftungen“, dem 1. Oktober 2020, ein außergewöhnliches Zeichen für den Stiftungsgedanken, für die Vielfalt und Nachhaltigkeit von Stiftungsengagement von „ganz großen“ wie „ganz kleinen“ Stiftungen in Deutschland. Eine wunderbare Facette des Mottos des Stiftungstags 2020: „Wir zusammen“!
Laudatio von Herrn Prof. Dr. Gilbert Lupfer (PDF)
Dankwort von Dr. Elke Pretzel (PDF)
Die Musiker Torsten Harder und Holm Heinke begleiteten die Preisverleihung mit stimmigen musikalischen Improvisationen.
Eine Zeitreise in die Geschichte der historischen Neubrandenburger Kunstsammlung sowie ihrer Erforschung ermöglichte der NDR-Film „Die verschwundene Kunstsammlung“ von Martina Gawaz, (Sendung am 9. 9. 2007 im Nordmagazin).
Die aktuelle Sonderausstellung des Kulturquartiers Mecklenburg-Strelitz setzte einen besonderen „Kunst-Akzent“ auf das Nachdenken über die „Zukunft des Erinnerns“. Die dritte Ausstellung des Archivs Bildende Kunst Mecklenburgische Seenplatte präsentiert unter dem Titel „Lebenszeichen“ Malerei und Grafik des Künstlers Wolfram Schubert – und spannte so rote Fäden zu Neubrandenburger Zeit-sowie Kultur-und Kunstgeschichte.
[1] Begründung der Jury zur Vergabe des 29. Annalise-Wagner-Preises
[2] Elke Pretzel: Eine Gebrochene Sammlung. Die Städtische Kunstsammlung Neubrandenburg (1890-1945) S.
[3] Begründung der Jury zur Vergabe des 29. Annalise-Wagner-Preises
[4] Elke Pretzel: Eine Gebrochene Sammlung. Die Städtische Kunstsammlung Neubrandenburg (1890-1945), S. 325
[5] Begründung der Jury zur Vergabe des 29. Annalise-Wagner-Preises