Brigitte Birnbaum: "Im Du"
Quelle: "Es ist mein Los, das alles Torso bleibt ..." : Briefe zwischen Marga Böhmer und Annalise Wagner / ausgew. u. mit 2 Essays von Brigitte Birnbaum. - Neubrandenburg, 1998. - S. 360 - 364
Typoskript, unveröff. Manuskript
Unter dieses Wort der Nähe stellte sie vier Gedichte, die sie mit anderen Versen von sich 1931 in der Druckerei ihres Vaters herausgab. Wunsch oder Erkenntnis? Achtundzwanzig war Awe - wie sie sich selbst nennen wird - damals und nach Jahren in München und Leipzig wieder ins mecklenburgische Heimatstädtchen und in den väterlichen Betrieb zurückgekehrt. Eine kleine, junge Frau, dicklich und mit Brille, und wenn man ihr auf der Straße nachschaute, dann nicht, weil sie besonders elegant gekleidet war. Wäre sie nach Neustrelitz zurückgekehrt, wenn sie vermögender gewesen wäre? Oder wenn sie es auswärts geschafft hätte, selbständig und frei zu leben? Wahrscheinlich nicht. Im Elternhaus wartete nur Gehilfenarbeit auf sie, und an ihren teils älteren, teils jüngeren Geschwistern hing sie auch nicht gerade mit großer Liebe. Und jene nicht an ihr. Vielleicht schämten sie sich sogar ihrer mittleren Schwester, deren Sehnsucht nach Zweisamkeit anders zu stillen war als bei den meisten Frauen. Und das in Neustrelitz, wo jeder jeden kannte. Was blieb Awe anderes, als in der Druckerei oder der dazu gehörenden Buchhandlung zu arbeiten und sich in Kunst und Literatur zu flüchten. "Der Mensch van Gogh" interessierte sie und Bettina von Arnim; Heinrich Zille und Käthe Kollwitz. Awe versuchte sich in der Kunstwissenschaft; hielt Vorträge. Beschäftige sich 1930/31 mit den Dramen von Ernst Barlach. Schrieb dem Künstler, schickte ihm ihr Manuskript und bat, ihn in Güstrow besuchen zu dürfen. Am 16.3.1932 sagte Bernhard A. Böhmer im Auftrag von Barlach ab. Vier Monate später, Awe hatte erneut angefragt, geschah Gleiches. Schon zu seinem 60. Geburtstag (1930) hatte Awe eine Würdigung des Meisters verfaßt. Aber es gelang ihr nicht, sie in den Mecklenburgischen Monatsheften zu veröffentlichen. Schmerzliche Enttäuschung. Es sollte Awes Tragik werden, daß sie sich und ihre Leistungen überschätzte. Sie fühlte sich "stehengelassen als nicht ebenbürtiges Wesen", wie als Kind in der Schule, wo sie begreifen mußte, daß es Standesunterschiede und Bildungsunterschiede gab. Gewöhnlich ließ ihr der Alltag wenig Raum für persönlichen Kummer. Die 1934 vom Vater übernommene Buch- und Papierwarenhandlung forderte sie. 1936 kam die Druckerei, die bis dato ihr Bruder Friedrich Wilhelm geführt hatte, ebenfalls in ihre Regie, allerdings nicht kampflos. Awe wurde Verlegerin für heimatkundliches Schrifttum, wie's damals hieß. Lehnte aber den Vertrieb von Nazi-Zeitungen ab. Das konnte nicht geheim bleiben. Außerdem war Awe von der Art Menschen, denen es stets gelingt, sich mit den Herrschenden anzulegen. "Ich bin ein Fanatiker, 100%ig", gestand sie freimütig ein. Und nur Dank dieser Eigenschaft gelang es ihr immer wieder, sich aus den tiefsten Tiefen aufzurappeln. Sie schaffte es 1942, nach nur sieben Tagen Schutzhaft, wieder freizukommen. Möglich, daß persönliche Beziehungen eine Rolle gespielt haben. Die Enteignung durch die Nazis schlug für Awe 1945 in Glück um; wenn ihr auch der Status als "Opfer des Faschismus" wegen Geringfügigkeit bald aberkannt wurde. Mit selbst genähtem Rucksack und zehn Mark machte sie Touren über Land und kaufte auf Kredit Bücher und Kunstgegenstände auf. Schon 1948 erhielt sie eine Gewerbeerlaubnis für Antiquariat und Kunsthandel. Räumlich mußte sie sich stark einschränken. In ihr Haus waren Flüchtlinge einquartiert worden, und in die Druckerei im Hof des Grundstücks zog die FREIE ERDE ein, die Bezirkszeitung der SED. Die im ganzen Land herrschende Not und das Nachkriegselend glaubte Awe am schnellsten durch tatkräftiges Zupacken beenden zu können: als Mitglied der LDPD, als Stadtverordnete, als Vorsitzende des Sozial- und Wohnungsausschusses. Doch auch jetzt geriet sie wieder mit den Regierenden in Konflikt. "Was für ein Wirbel von Hans Fallada gemacht wird, von einem Schriftsteller und Kriminellen und Süchtigen", erboste sie sich. "Meine Arbeit und Person könnte wohl weit schwerer in der Gesellschaft wiegen als die des besagten Schriftstellers." Nicht immer war Awe im Recht. Enttäuschungen, auch politische, blieben ihr nicht erspart. Dennoch verließ sie nicht wie so mancher ihr Heimatstädtchen in Richtung Westen. Awe blieb und wehrte sich; fühlte sich verantwortlich; auch für ihre Mitmenschen, die ihr schwach und hilflos schienen wie Walter Karbe. Für seine Sammlung fand sie in ihrem Haus trotz aller Enge ein Eckchen und erhielt so der Stadt Neustrelitz ein Archiv. Bald nach Barlachs Tod (1938) hatte Awe versucht, sich in den Freundeskreis von Marga Böhmer einzureihen. Barlachs Lebensgefährtin reagierte in ihrer Trauer nicht sofort, lud die Neustrelitzerin dann aber ein. Doch Awe reiste damals nicht nach Güstrow. Der Zweite Weltkrieg war inzwischen ausgebrochen. Zehn Jahre später kreuzten sich erneut ihre Wege. Von einer Kundin hörte Awe, daß Marga Böhmer in Güstrow unter armseligen Verhältnissen lebte und daß sie darum kämpfte, dem Meister eine Gedächtnisstätte in der St. Gertruden, einer ziemlich verfallenen Friedhofskapelle, einzurichten. Sofort bot Awe Hilfe an. Marga zögerte anfangs. Jetzt besuchte Awe sie. Sie schrieben einander lange Briefe. Die akademisch gebildete Künstlerin, die weder Kuchen backen noch eine Ente braten konnte - solches auch nie hatte können müssen - und die praktische Awe, die stets auf sich selbst gestellt war, kamen einander näher. Aus ihrer Bekanntschaft wurde eine Freundschaft. Sie fanden sich im Du. "Unsere Freundschaft war eine außergewöhnliche, kann ich sagen, weil sie ganz aus dem üblichen bürgerlichen Milieu herausbrach", schrieb Awe. "Marga Böhmer war ein Mensch, mit dem man gute zuverlässige Freundschaft schließen konnte - vorurteilsfrei in Hingabe an den Partner." Wenn nur irgend möglich, engagierte sich Awe für die Freundin und den Meister, regelte sie vieles auf den Ämtern und Dienststellen, machte schriftliche Eingaben. Verlangte sie z.B. am 20. 5. 53 per Telegramm von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten in Berlin "sofort einen Blitzableiter für die Gertruden-Kapelle zu veranlassen". Da sich Awe von niemand abweisen ließ, schuf sie sich schnell Gegner; besonders, weil sie die Meinung vertrat, "in Ost und West marschiere ein absolut falscher Sozialismus. Er hat keine Basis, kein Fundament, ist nicht verwurzelt, darum kann er sich nirgend verankern, ist auf Streusand gebaut." Nach ihrer Ansicht mußte das Fundament "aus persönlicher Liebe und Verantwortung für den Nächsten bestehen". Solches von der deutsch-national gesinnten Neustrelitzerin und Verehrerin des mecklenburgischen Herzoghauses zu hören, erstaunt. Bei Deutschlands "Erbfeinden" oder auch nur bei alkoholabhängigen Mitbürgern kannte sie nicht das geringste Quantum an "überpersönlicher Liebe". Obwohl ihr "unbedingter Glaube an die Gottgeisterkraft" sie eigentlich dazu hätte führen müssen. War Awe doch fest überzeugt, "daß die Kraft guter Gedanken helfender Bote sein kann". Gern hätte sie ihre Buchhandlung aufgegeben und nur wissenschaftlich gearbeitet. Weil sie aber Geld verdienen mußte, versuchte sie beides nebeneinander. Sich keine Ruhe gönnend, besonders seit Margas Tod und dem Verlust anderer Freundinnen, schrieb sie. Keine Gedichte mehr. Sie setzte Walter Karbe ein literarisches Denkmal, veröffentlichte in Westdeutschland über Adolf Freiherrn von Schack, Albrecht von Maltzahn und den Grafen Friedrich H. Hahn. "Meine Stärke oder Liebe in meiner Schreiberei ist stets das biographische Denkmal gewesen. Der Mensch kommt bei mir zuerst und erst danach der Künstler und sein Werk. Ich bin der Ansicht, von der Größe des Menschen hängt auch die Größe des Werkes ab. Sie ist doch Ausfluß seiner Sinne, des Gemüts und des Geistes." 1966 schuf Awe die Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs, das sie 1956 gegründet hatte und seitdem betreute. Zwölf Hefte zur Heimatgeschichte erschienen, in denen sie über die unterschiedlichsten Themen publizierte. Abgesehen von den zahlreichen Beiträgen in den Regionalzeitungen. Immer von dem Wunsch getrieben, Neustrelitz sein historisches Gedächtnis wiederzugeben, das die Stadt seit 1934 mit der Auflösung des Landeshauptarchivs bis hin zur Auflösung der Landesbibliothek (1950) allmählich verloren hatte. Von der gleichen Idee beseelt, schenkte sie 1972 ihr Wohnhaus samt Anwesen ihrer Heimatstadt, ein halbes Jahr später geht auch das Karbe-Wagner-Archiv als Schenkung an Neustrelitz über. Und quasi als Dank wurde Awe am 70. Geburtstag zur Ehrenbürgerin ernannt. Die Eröffnung des von ihr aufgebauten Heimatmuseums in der Gutenbergstraße 2 war ihr dann leider nicht mehr vergönnt. Nach Auseinandersetzungen mit dem Rat der Stadt wurde Awe kurzfristig am 1. April 1974 entlassen und ein neuer Archivar eingestellt. Eine Kränkung, die Awe nie verwand, zumal sie nun zur Wirkungslosigkeit verdammt war. Isoliert und alt geworden, beschäftigte sie sich mit dem Leben von Hoffmann von Fallersleben. Die Ehrenbürgerin muß jedes Vertrauen zu ihren Stadtvätern verloren haben. Sie kaufte sich sicherheitshalber selbst ihren Grabstein und vermachte ihren Nachlaß mit allen Rechten der Stadt- und Bezirksbibliothek Neubrandenburg. Awe trat nicht, wie sie, infolge von wiederholten Herzanfällen auf Bahnhöfen glaubte, von dort ihre letzte Reise an. Einsam starb sie am 26. Juni 1986, sieben Tage nach ihrem 83. Geburtstag, in ihrer Wohnung.