Der Annalise-Wagner-Preis 2023 geht an die Erzählung „Du stirbst im Fliegen“ von Jörn van Hall
Jörn van Hall erhält für sein Prosa-Debüt „Du stirbst im Fliegen“ (Quintus Verlag, 2022) den Annalise-Wagner-Preis 2023.
Der Literaturpreis der Annalise-Wagner-Stiftung aus Neubrandenburg ist mit 2.500 Euro dotiert. Er würdigt zum 32. Mal einen Text aus der oder über die Region Mecklenburg-Strelitz im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, der sowohl sprachästhetisch von hervorragender Qualität ist als auch thematisch von herausragender Relevanz. Die Preisvergabe unterstützen in diesem Jahr die Sparkasse Neubrandenburg-Demmin und der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.
Die Jury wählte Jörn van Halls Erzählung aus 73 Einreichungen aus. In der Begründung heißt es: „Du stirbst im Fliegen“ – ein kleines Meisterwerk mit großer Strahlkraft.“
Jörn van Hall erzählt die Geschichte der an Demenz erkrankten Opernsängerin Helene und des aus seiner iranischen Heimat geflüchteten Mourad. Tag für Tag wartet dieser in der norddeutschen Container-Unterkunft auf den Brief, der über sein Leben entscheiden soll. Und er verzweifelt zusehends, bis sein heimlicher Freund Ole ihm im Haus der Mutter ein Zimmer anbietet. Im Gegenzug soll Mourad sich um die achtzigjährige Helene kümmern, die mehr und mehr vergisst. Mit seiner Hilfsbereitschaft und den stimmungsvollen Erzählungen über seine Heimat und Träume gewinnt Mourad die Sympathien von Helene, Nachbarin Maike und der Briefträgerin Irma. Nur der verwitwete Frithjoff, Maikes Vater und Helenes Verehrer, bleibt misstrauisch. Diese Dorfgemeinschaft ist „– Tür an Tür lebend – auch eine Art Notgemeinschaft. In der jede(r) um die fein gewebten Fäden von Schicksal, Schuld und Verantwortung weiß. Ohne, dass diese benannt werden müssten. [...]“ Am Ende muss Mourad über sein Leben entscheiden – allein …
Die Jury betont: „Im Sinne der Stifterin fordert der Text heraus zum Nachdenken über Heimat und Identität. Dabei überlässt er den Lesenden eine eigenständige Perspektive auf scheinbar vertraute wie auf vermeintlich fremde Lebensumstände in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation.“
Sensibel und subtil regt diese Erzählung an zum Nachdenken über vielschichtige zeitgeschichtliche Themen wie „Flucht, Vertreibung, Verstrickung, Teilung, Revolution, Abwanderung, Homophobie, familiäre Autoritäten, drohende Hinrichtung“.
Das gelingt Jörn van Hall „mit großer Sprachkraft und Stilsicherheit und vor allem ohne Klischees“. „Knappe, sehr präzise, manchmal beinah raue Sätze“ lassen alles, was wir nicht erinnern und bedenken wollen, „umso schärfer zutage treten“. Jörn van Halls „Kunst des Auslassens“ eröffnet einen „Kosmos“ von Assoziationen. Die „poetische Kraft“ der Erzählung ist beeindruckend – und der kurze Text wirkt lange nach.
Jörn van Hall, Jahrgang 1970, absolvierte sein Jurastudium in Hannover und Berlin. Nach Abschluss des Referendariats am Berliner Landgericht ging er im Jahr 2000 nach London und arbeitete dort als Editor für die Legalease Ltd. Von 2007 bis 2021 war er im deutschen Verlagswesen tätig und betreute als Kurator Projekte zu Kunst- und Kulturthemen mit Bezug zum Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Jörn van Hall lebt als Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer in Neustrelitz und Berlin.
Jörn van Hall: „Die Auszeichnung mit dem Annalise-Wagner-Preis rührt und ehrt mich sehr. Ich fühle mich in meiner schriftstellerischen Arbeit bestärkt und in meinem Anliegen, Selbstverständlichkeiten einzufordern, wie sie Annalise Wagner, da bin ich mir sicher, gern er- und gelebt hätte: ‚Du bist ein Mensch‘, schrieb sie, ‚bist wie die Erde / so schillernd in tausend Farben.‘ Es ist an uns, nach diesen Zeilen zu leben, zu lieben.“
Die öffentliche Verleihung des 32. Annalise-Wagner-Preises an Jörn van Hall findet am 23. Juni 2023 um 17 Uhr im Haus der Kultur und Bildung in Neubrandenburg statt. Die Annalise-Wagner-Stiftung freut sich auf interessierte Gäste und bittet um Anmeldung (Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, 0395 / 5551333).
Die Laudatio wird die Schriftstellerin Kerstin Hensel halten.
Prof. Kerstin Hensel ist eine der angesehensten deutschsprachigen Lyrikerinnen, schreibt außerdem Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Hörspiele, Essays oder Kinderbücher und ist seit 2001 Professorin für Verssprache und Diktion an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Sie wurde ausgezeichnet u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis, Leonce-und-Lena-Preis, Lessingpreis oder Ida Dehmel-Literaturpreis, ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, der Akademie der Künste Berlin sowie des PEN.