Annalise-Wagner-Preisträgerin

Annalise-Wagner-Preis 2008

Dr. Annette Leo

aus Berlin

für die Publikation
:

„Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ…“ :
Der Fürstenberger Alltag
und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

Berlin : Metropol-Verlag 2007, ISBN 978-3-938690-61-1).

Aus 59 Bewerbungen und Vorschlägen wählte die Jury des Annalise-Wagner-Preises 2008 einstimmig diesen dokumentarisch-publizistischen Text aus, der Zeitzeugen-Erinnerungen von Bürgern aus der ehemals mecklenburg-strelitzschen Stadt Fürstenberg (bis 1952 Mecklenburg, heute Bundesland Brandenburg) an das unmittelbar benachbarte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zu einem widersprüchlichen Bild zusammenfügt.

Die Jury beeindruckte, mit welcher Sensibilität die Berliner Historikerin und Publizistin Annette Leo erkundet, wie Fürstenberger der Geburtsjahrgänge 1913 bis 1933 erlebt und verarbeitet haben, was zwischen 1939 und 1945 im KZ Ravensbrück geschah, was danach unter sowjetischer Besetzung passierte und wie sie heute darüber denken. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interviewprojekt „Die Stadt Fürstenberg und das KZ Ravensbrück“ in Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und als Publizistin ging es Annette Leo „nicht mehr nur darum, ob und wie die Fürstenberger auf das Geschehene reagiert hatten, sondern auch darum, ob und wie ihre Wahrnehmungen und Bewertungen sich nach dem Erlebnis von mindestens zwei gesellschaftlichen Brüchen – 1945 und 1990 – veränderten“ (A. Leo).

Diese Darstellung von Brüchen und Widersprüchen in Geschichte und Erinnerungsprozessen ist für die Jury Beispiel für einen neuen Ansatz des Gedenkens in einer veränderten Geschichtskultur, der weniger in Schwarz-Weiß-Kategorien als in Widersprüchlichkeiten argumentiert, ohne nationalsozialistische und kommunistische Diktatur gleichzusetzen oder NS-Verbrechen zu verharmlosen. Annette Leo setzt ritualisierten Formeln der „Bewältigung“ von Geschichte die Annahme oder Ablehnung von persönlicher Verantwortung der Interviewten, immer eingebettet in deren Alltagserfahrungen, entgegen. Sie steht für einen nichtideologischen und leisen Umgang mit individueller Verantwortung anstelle plakativ wirksamer Schuldzuweisung.

Annette Leos stilistisch virtuos gehandhabte Interview- und Kommentartechnik, ihre dichte Erzählung und ihr leiser Ton tragen wesentlich dazu bei, dass dieser Text eine „aktive Haltung des Erinnerns“ fördert, dass er Fragen auslöst nach Komplexität und Widersprüchlichkeit historischer Prozesse, nach individuellen und gesellschaftlichen Erinnerungsprozessen, nach der Gefährlichkeit aktueller rechtsextremer Bestrebungen, vor allem aber nach Vergleichbarkeit heutiger individueller Entscheidungssituationen und nach persönlicher  Verantwortung.

Deshalb gehört Annette Leos Arbeit im Sinne Annalise Wagners (1903 – 1986), der Stifterin des Annalise-Wagner-Preises, zu den Texten mit ganz besonderem Wert für das „Gedächtnis der Region“.


Matthias Wolf: Schnitt durch Erinnerungslandschaften : Für ihr Buch über den Fürstenberger Alltag nahe dem Konzentrationslager Ravensbrück erhält die Historikerin Annette Leo den Annalise-Wagner-Preis
In: Nordkurier. – Neubrandenburg (2008-06-20). – S. 3 

Marlies Steffen: Annalise-Wagner-Preis für sensibles Interview-Projekt.
In: Nordkurier : Strelitzer Zeitung. – Neubrandenburg (2008-06-23). – S. 11 


Festliche Preisverleihung am 21. Juni 2008 im Rathaus der Stadt Neustrelitz

Laudatio
: Loretta Walz, Filmemacherin und Autorin

Dankwort
: Dr. Annette Leo

Sylvia Bretschneider, Präsidentin des Landtages Mecklenburg-Vorpommern: Gratulation

Dr. Insa Eschebach, Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück: Gratulation