Aus
59 Bewerbungen und Vorschlägen wählte die Jury
des Annalise-Wagner-Preises 2008 einstimmig
diesen dokumentarisch-publizistischen Text aus, der
Zeitzeugen-Erinnerungen von Bürgern aus der ehemals
mecklenburg-strelitzschen Stadt Fürstenberg
(bis
1952 Mecklenburg, heute Bundesland Brandenburg) an das
unmittelbar benachbarte Frauenkonzentrationslager
Ravensbrück zu einem widersprüchlichen Bild
zusammenfügt.
Die Jury beeindruckte, mit welcher Sensibilität die
Berliner Historikerin und Publizistin Annette Leo
erkundet, wie Fürstenberger der Geburtsjahrgänge 1913
bis 1933 erlebt und verarbeitet haben, was zwischen 1939
und 1945 im KZ Ravensbrück geschah, was danach unter
sowjetischer Besetzung passierte und wie sie heute darüber
denken. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Interviewprojekt „Die Stadt Fürstenberg und das KZ
Ravensbrück“ in Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte
Ravensbrück und als Publizistin ging es Annette Leo
„nicht mehr nur darum, ob und wie die Fürstenberger auf
das Geschehene reagiert hatten, sondern auch darum, ob und
wie ihre Wahrnehmungen und Bewertungen sich nach dem
Erlebnis von mindestens zwei gesellschaftlichen Brüchen
– 1945 und 1990 – veränderten“ (A. Leo).
Diese Darstellung von Brüchen und Widersprüchen in
Geschichte und Erinnerungsprozessen ist für die Jury
Beispiel für einen neuen Ansatz des Gedenkens in einer
veränderten Geschichtskultur, der weniger in Schwarz-Weiß-Kategorien
als in Widersprüchlichkeiten argumentiert, ohne
nationalsozialistische und kommunistische Diktatur
gleichzusetzen oder NS-Verbrechen zu verharmlosen. Annette
Leo setzt ritualisierten Formeln der „Bewältigung“
von Geschichte die Annahme oder Ablehnung von persönlicher
Verantwortung der Interviewten, immer eingebettet in deren
Alltagserfahrungen, entgegen. Sie steht für einen
nichtideologischen und leisen Umgang mit individueller
Verantwortung anstelle plakativ wirksamer Schuldzuweisung.
Annette Leos stilistisch virtuos gehandhabte Interview-
und Kommentartechnik, ihre dichte Erzählung und ihr
leiser Ton tragen wesentlich dazu bei, dass dieser Text
eine „aktive Haltung des Erinnerns“ fördert, dass er
Fragen auslöst nach Komplexität und Widersprüchlichkeit
historischer Prozesse, nach individuellen und
gesellschaftlichen Erinnerungsprozessen, nach der Gefährlichkeit
aktueller rechtsextremer Bestrebungen, vor allem aber nach
Vergleichbarkeit heutiger individueller
Entscheidungssituationen und nach persönlicher
Verantwortung.
Deshalb gehört Annette Leos Arbeit im Sinne Annalise
Wagners (1903 – 1986), der Stifterin des
Annalise-Wagner-Preises, zu den Texten mit ganz besonderem
Wert für das „Gedächtnis der Region“.
Matthias
Wolf: Schnitt durch Erinnerungslandschaften
: Für ihr Buch über den Fürstenberger Alltag nahe dem
Konzentrationslager Ravensbrück erhält die Historikerin
Annette Leo den Annalise-Wagner-Preis
In: Nordkurier. – Neubrandenburg (2008-06-20). – S.
3
Marlies
Steffen: Annalise-Wagner-Preis für sensibles
Interview-Projekt.
In: Nordkurier : Strelitzer Zeitung. – Neubrandenburg
(2008-06-23). – S. 11
Festliche
Preisverleihung am 21. Juni 2008 im Rathaus der Stadt
Neustrelitz
Laudatio:
Loretta Walz,
Filmemacherin und Autorin
Dankwort:
Dr. Annette Leo
Sylvia
Bretschneider, Präsidentin des Landtages
Mecklenburg-Vorpommern: Gratulation
Dr. Insa
Eschebach, Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück:
Gratulation
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