28. Annalise-Wagner-Preis

Reinhard Simon:
Domjücher Schicksale: Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus

Spica Verlag, 2019
ISBN 9783946732549

Der 28. Annalise-Wagner-Preis wird gefördert von der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft NEUWOGES mbH und dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.
Die Annalise-Wagner-Stiftung dankt herzlich!

 

Aus 73 Vorschlägen und Bewerbungen wählte die Jury einstimmig zur Auszeichnung mit dem 28. Annalise-Wagner-Preis aus die als Manuskript vorgelegte Dokumentation „Wenn Sie Ihren Sohn noch einmal sehen wollen …“ : Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus“ von Reinhard Simon aus Neustrelitz. Auf der Grundlage dieses Manuskripts erschien nach Abschluss der Jury-Arbeit die Publikation „Domjücher Schicksale: Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus“ (ISBN 9783946732549).

Diese Dokumentation gehört zu den verdienstvollen Publikationen zur regionalen Geschichte, Kultur- oder Naturgeschichte, die als Ergebnis von Bürgerforschung im Ehrenamt (Citizen Science) entstehen. Und sie ist ein Beispiel für „kleine Texte“ mit großem Potential als Impulsgeber für lebendige demokratische Erinnerungskultur, aktives bürgerschaftliches Engagement und gesellschaftlichen Diskurs in der Region.

Reinhard Simon lebt in Neustrelitz und ist Verwaltungsangestellter im Naturschutzbereich. 2015 las er einen Artikel über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde an psychisch kranken oder behinderten Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen in Mecklenburg. Und erfuhr: Auch an einem historischen Ort „vor der Haustür“ spielte dieses dunkle Kapitel der Regionalgeschichte, in der „Heil- und Pflegeanstalt Domjüch“ am Domjüchsee bei Neustrelitz.

Die Domjüch“ ist ein mehrschichtiger, regional einzigartiger, doch noch immer kaum bekannter Erinnerungsort im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Hier wurde 1902 die „Großherzogliche Landesirrenanstalt“ als moderne psychiatrische Einrichtung begründet, 1934 als „Heil- und Pflegestätte“ weitergeführt, 1943 aufgelöst und als Tuberkuloseheilanstalt genutzt. 1945 bis 1993 waren auf dem Gelände Truppen der sowjetischen Streitkräfte stationiert – und der unzugängliche Ort wurde zu einem „weißen Fleck“ in der Erinnerungslandschaft. Diese Lücken begann 2001 die Neustrelitzer Stadtarchivarin Christiane Witzke zu füllen mit ihrem bahnbrechenden historischen Abriss „Domjüch – Erinnerungen an eine Heil- und Pflegeanstalt in Mecklenburg-Strelitz“, der mit dem Annalise-Wagner-Preis 2002 ausgezeichnet wurde.

Die „Euthanasie“-Morde waren die ersten NS-Massenmorde. Zwischen 1939 und 1945 wurden auf der Grundlage der rassistischen nationalsozialistischen Ideologie hunderttausende psychisch kranke, geistig bzw. körperlich behinderte oder sozial auffällige Männer, Frauen und Kinder als „minderwertig“ und „lebensunwert“ diskriminiert, zwangssterilisiert und / oder planmäßig getötet. Das medizinische Personal wurde dafür ideologisch geschult in der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ im mecklenburgischen Alt Rehse. Diesem Medizinverbrechen fielen auch hunderte Menschen aus den mecklenburgischen „Heil- und Pflegeanstalten“ Sachsenberg-Lewenberg und Domjüch sowie der Psychiatrischen Klinik Rostock-Gehlsheim zum Opfer.

Reinhard Simon engagiert sich dafür, möglichst vielen Opfern der „Euthanasie“-Morde aus „der Domjüch“ ihren Namen zurück zu geben – und damit ein Zeichen zu setzen für die Einzigartigkeit jeder Persönlichkeit und für die Würde jedes Menschen.

2015 wurde er Mitglied im „Verein zum Erhalt der Domjüch – ehemalige Landesirrensanstalt e.V.“ und initiierte 2016 eine Erinnerungsstätte für Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Morden aus der Domjüch. Er unterstützt den virtuellen Gedenk- und Informationsort www.gedenkort-t4.eu und sucht ehrenamtlich immer weiter nach Namen und biografischen Zeugnissen.

„Für mich ist es das Wichtigste“, schreibt Reinhard Simon, „die Opfer dieser menschenverachtenden Vernichtung psychisch und körperlich Kranker nicht zu vergessen und alles dafür zu tun, dass diese Verbrechen nie wiederholt werden. Dazu möchte ich auch mit diesem Buch beitragen.“[1]

In seiner Publikation veröffentlicht Reinhard Simon nun zum ersten Mal alle 62 bisher bekannten Namen der NS-Opfer aus „der Domjüch“ – und verankert sie auf diese Weise nachhaltig im „Gedächtnis der Region“.

Am regionalen Beispiel spannt die Dokumentation seiner Spurensuche einen Bogen vom „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (14. Juli 1933) zu den „Euthanasie“-Patientenmorden in der „Aktion T4“ (1940-1941) und bis ins Jahr 1945.

Der Autor entwirft ein – für die schwierige Quellenlage – erstaunlich plastisches Bild davon, „was sich in der dunklen Zeit auf der Domjüch abgespielt haben könnte“[2]. Dabei beschreibt er u. a. erstmals, wie das sogenannte „Erbgesundheitsgericht“ arbeitete, das ab 1934 dem Amtsgericht Neustrelitz angegliedert war und über Zwangssterilisationen in Mecklenburg-Strelitz entschied.

Berührend ist sein konsequent biografischer Ansatz: Reinhard Simon erzählt von den NS-Verbrechen anhand von Einzelschicksalen, soweit möglich mit biografischen Lebensskizzen, aber auch anhand kleinster Lebensspuren. Akribisch suchte er danach in den wenigen erhaltenen Krankenakten, in Transportlisten oder Todesanzeigen, in Gesprächen mit Zeitzeugen oder Angehörigen, in wissenschaftlichen Publikationen und Gedenkstätten, in deutschen und polnischen Archiven.

An den Schicksalen von Kurt Kühn und Max Gabriel wird deutlich, wie das „Erbgesundheitsgericht“ Neustrelitz Zwangssterilisationen an 70 Männern und 52 Frauen aus der Domjüch festsetzte. Biografien von beteiligten Richtern und Ärzten aus Neubrandenburg, Neustrelitz und der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch machen sichtbar, wer als Täter Verantwortung trug.

Ab 1934 erzählen Lebensgeschichten von Ernst Niemax aus Strasen, Petronella Lukaitis aus Litauen oder Anna Ziolkowski aus Weisdin von drastisch reduzierten Pflegesätzen, sinkenden Finanzmitteln und häufigen Patientenverlegungen in den drei mecklenburgischen psychiatrischen Anstalten. Jedes dieser drei Menschenleben endete 1941 mit der Ermordung. Fast vollständig rekonstruieren konnte Reinhard Simon die Lebensgeschichte von Anna Ziolkowski, die „unangepasst war und ihre eigene Vorstellung vom Leben hatte. Es reichte aber aus, um ihrem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen.“[3].

Wie mit Beginn des Zweiten Weltkriegs die rassistisch motivierte Diskriminierung von kranken und behinderten Menschen zum systematischen, organisierten Töten von Patienten in den „Euthanasie“-Morden führt, belegt Reinhard Simon z. B. mit den Schicksalen Alma Franke aus Menz, dem ersten Domjücher „Euthanasie“-Opfer oder mit dem - einzigen erhaltenen -  „T4-Meldebogen“ für Max Gabriel.

Die Erinnerung an das kurze Leben von Else Reglin aus Carwitz öffnet die Augen für das lange Vergessen und Verschweigen, das diese NS-Opfer fast schon aus auch dem „Gedächtnis der Region“ löschte: Erst 2016 erfuhren Verwandte, dass sie zu den ersten Opfern der „Aktion T4“ aus Mecklenburg gehörte. Reinhard Simon verdeutlicht mit Zeitzeugenberichten und historischen Spuren, was gefälschte Sterbeurkunden verschleiern sollten: Else Reglin wurde wie etwa 100 weitere Patienten „der Domjüch“  am 11. Juli 1941 von Neustrelitz in die Tötungsanstalt Bernburg gebracht und dort am selben Tag ermordet. Es war der „erste Tötungstransport psychisch Kranker aus Mecklenburg“[4]. 

Mit Lebenswegen von Magdalena Rieck aus Neustrelitz, Helma Sittnick aus Neubrandenburg oder des 15jährigen Harry Barthelt aus Stavenhagen erinnert Reinhard Simon an Patienten „der Domjüch“, die nach Auflösung der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch (1943) von psychiatrischen Anstalten wie Sachsenberg-Lewenberg, Rostock-Gehlsheim, Kückenmühle oder Meseritz-Obrawalde aus in den Tod geschickt wurden.

Reinhard Simons Dokumentation ersetzt nicht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen medizingeschichtlichen Forschung zur Heil- und Pflegeanstalt Domjüch in der NS-Diktatur. Doch in einer Zeit, in der die Erinnerung an das Geschehen vor mehr als 80 Jahren in das „kulturelle Gedächtnis“ übergeht, kann diese Publikation etwas ganz Besonderes:

Sie kann durch ihre im doppelten Sinne „leichte Zugänglichkeit“ und durch ihren berührenden biografischen Ansatz viele Menschen in der Region erreichen und aufmerksam machen auf lange vergessene NS-Opfer und auf den wenig bekannten Erinnerungsort an NS-Gewaltverbrechen am Domjüchsee. Sie widerspiegelt und sie ist aktives „Bürgerengagement gegen das Vergessen“ – und sie regt dazu an, dafür selbst aktiv zu werden. Sie ist eine engagierte, persönliche Form lebendigen Erinnerns an ein dunkles Kapitel der Regionalgeschichte, das uns heute Wichtiges zu sagen hat – und sie fordert indirekt, leise, aber nachdrücklich dazu heraus, sich Gedanken zu machen über Menschenwürde, Menschenrechte und medizinethische Fragen.

Deshalb möchte die Jury gerade an diesem Beispiel ein Zeichen setzen für Anerkennung und Wertschätzung regionalgeschichtlicher Bürgerforschung im Ehrenamt und für die dabei entstehenden Publikationen. Diese vielfältigen - manchmal „kleinen“ - Publikationen“ sind es, die im kulturellen Gedächtnis der Region anregende, bunte Akzente setzen, Regionalgeschichte wie Erinnerungskultur zu einem lebendigen Prozess machen und dabei eine Facette zum Leuchten bringen, die auch Annalise Wagner vorlebte: aktives, engagiertes, nachhaltiges Bürgerengagement für das „Gedächtnis der Region“.

Welche Fragen die Erinnerung an die „Euthanasie“-Morde der NS-Diktatur heute stellen, berührt wichtige Themen des gesellschaftlichen Diskurses, u. a. auch vor dem aktuellen Hintergrund von 70 Jahren Grundgesetz, 71 Jahren Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention, den Warnungen vor zunehmenden Rassismus und Antisemitismus in Deutschland – und nicht zuletzt: in Erinnerung an die zentrale Gedenkveranstaltung „Erinnern, Betrauern, Wachrütteln“ für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen, die am 27. Januar 2019 in der Region, in der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse und im Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Neubrandenburg stattfand.

Reinhard Simon

wurde 1963 in Neustrelitz geboren. Er ist Diplomagrarpädagoge, war Lehrer in der Betriebsberufsschule des Volkseigenen Gutes Groß Vielen und arbeitet seit 1990 in der Verwaltung des Kreises Neustrelitz bzw. des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. In der Freizeit engagiert er sich u. a. für Naturschutz und Heimatgeschichte sowie seit 2015 im „Verein zum Erhalt der Domjüch – ehemalige Landesirrenanstalt e.V.“ 2007 war Reinhard Simon Preisträger des Erwin-Hemke-Preises „Forschen-schreiben-schützen“.

 

Jurybegründung (Download als PDF)

Presseinformation (Download als PDF)

Presse (Auswahl)

Lemke, Tobias: Annalise-Wagner-Preis 2019 vergeben. – In: Nordkurier : Strelitzer Zeitung (2019 -06-06). – S. 13 (PDF)

Dunkles Kapitel der Regionalgeschichte : Neustrelitzer erhält Annalise-Wagner-Preis für Dokumentation über „Euthanasie“-Morde. – In: Mecklenburg-Strelitz-Blitz am Sonntag (2019-06-09). – S. 1 (PDF)

Goetsch, Anke: Annalise-Wagner-Preis für „Domjücher Schicksale“. – In: Nordkurier : Neubrandenburger Zeitung (2019-06-28). – S. 15 (PDF)

Goetsch, Anke: Preis für den Text über Domjücher Schicksale. - In: Nordkurier : Strelitzer Zeitung (2019-06-28). – S. 14 (PDF)

Susanne Schulz: Hobbyforscher legt Grundstein für mehr. - In: Nordkurier : Neubrandenburger Zeitung (2019-07-01). - S. 15 (PDF)

Susanne Schulz: Hobbyforscher legt Grundstein für mehr. - In: Nordkurier : Strelitzer Zeitung (2019-07-02). - S. 14 (PDF)

 

 

Preisverleihung

Der 28. Annalise-Wagner-Preis ist mit 2.500 Euro dotiert.
Die Preisvergabe wurde gefördert von der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft NEUWOGES mbH und dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.

Die öffentliche Verleihung des 28. Annalise-Wagner-Preises fand statt am 28. Juni 2019 um 18 Uhr in der Regionalbibliothek Neubrandenburg.

Einladung Preisverleihung (PDF)

Die Laudatio für Reinhard Simon hielt Dr. rer. hum. Kathleen Haack, Arbeitsbereich Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Rostock und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde DGGN. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten in Mecklenburg und Pommern in der Zeit des Nationalsozialismus.

Laudatio von Dr. Kathleen Haack (PDF)

Dankwort von Reinhard Simon (PDF)

Schauspieler Michael Kleinert und Musiker Michael Rappold eröffneten die Veranstaltung mit einer Text-Klang-Collage zum Preisträger-Text.

Am Nachmittag konnte die Regionalbibliothek im Rahmen einer Bibliotheksführung mit Bibliotheksleiterin Angelika Zillmer „auf den Spuren von Annalise Wagner“ erkundet werden.

 

[1] „Wenn Sie Ihren Sohn noch einmal sehen wollen …“ : Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus“ / von Reinhard Simon. – Manuskript, 2019. - o.S.
[2] „Wenn Sie Ihren Sohn noch einmal sehen wollen …“ : Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus“ / von Reinhard Simon. – Manuskript, 2019. - o.S.
[3] „Wenn Sie Ihren Sohn noch einmal sehen wollen …“ : Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz in der Zeit des Nationalsozialismus“ / von Reinhard Simon. – Manuskript, 2019. - o.S.
[4] Kathleen Haack, Ekkehardt Kumbier: Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion in Mecklenburg : ein Überblick. – In: Zeigeschichte regional 19(2015)1 S. 42