Pauline
de Bok
Dankwort
Das
dritte Leben von »Blankow«
Dankwort zur Verleihung des Annalise-Wagner-Preises 2010
Hier
stehe ich mit dem deutschsprachigen »Blankow«. Es war
knapp, eigentlich hatte ich die Hoffnung auf eine Übersetzung
längst fahren lassen. Obwohl ich, als ich mich im Jahre
2003 zum ersten Mal alleine mit dem Hund nach Blankow zurückzog,
eines schon wusste: Ein eventuelles Buch würde für mich
erst gelungen sein, wenn die Geschichten auf Deutsch in
diese Gegend zurückkehren würden. Blankow gilt für mich
als Symbol für alle ähnlichen Orte, deren Vergangenheit
in Vergessenheit gerät. Auch hier haben Menschen gelebt,
Hunderte von Menschen wie Sie und ich, mit ihrer Hoffnung,
ihrem Kummer und ihrer Freude, auch hier hat sich eine
Metapher der deutschen Geschichte entfaltet, man muss sich
nur langsam annähern, hinschauen, horchen, stille sein.
Mitte Juni 2006, als »Blankow« in den Niederlanden
herauskam, fiel es schnurstracks ins Sommerloch.
Anderthalb Jahre später wurde es durch die Nominierung für
einen Non-Fiction-Preis aus dem Tod auferweckt. Eines
Abends
im September 2008 klingelte das Telefon. Cees Nooteboom.
Er sagte: »Ich habe Ihr Buch gelesen, es muss in Deutschland erscheinen, die Deutschen sollten es lesen, ich
bin dabei, einen deutschen Verlag dafür zu interessieren.«
Und tatsächlich. Im Herbst 2009 fängt »Blankows«
zweites Leben an. Ich sitze unter einem alten Dach in
einem alten Wald in Niedersachsen und lese, beleuchtet von
einer Schreibtischlampe, auf Deutsch vor. Ich bin
gespannt: Werden die Deutschen es akzeptieren, dass ich
mich als Ausländerin so in ihre Geschichte eingegraben
habe? Eine Unbekannte vom »lockeren Nachbarvölkchen«,
die sich ahnungslos den deutschen Traumata annähert und
sie dreist aus ihrer eigenen Sicht beleuchtet? Ich konnte
nur abwarten, das Buch war zu Hause angelangt.
Unter dem Dach in dem niedersächsischen Wald ist es mäuschenstill,
eine Stunde lang, die frischen deutschen Wörter klingen
tief in meinem eigenen Kopf, ich spüre eine Intensität,
die der des Schreibens dieser Passagen ganz nahe kommt.
Die Leute frieren, die Stille ist mit Händen greifbar.
Nachher stehen wir draußen zwischen den Bäumen mit
Rotwein und Brezeln, es dämmert, es formt sich ein Kreis.
Es entsteht ein Gespräch, ernsthaft, offen. In der Mitte
des Kreises wabern die Familiengeschichten aller, jeder trägt
im Alltag seine eigene mit sich herum, in allen Fasern,
meist schweigend, Leid und Schuld sind nicht messbar, jede
Narbe ist anders.
Viele graue Haare dort auf der Lichtung, also viele
Menschen mit ›Reminiszenzhöcker‹, wie der niederländische
Psychologie-Professor Douwe Draaisma das Phänomen nennt,
dass mit etwa siebzig Erinnerungen aus der Kindheit und
Jugend hochkommen, die man glaubte vergessen zu haben.
Auch im Kreis die dritte Generation. Eine
Medizinstudentin: »Ich habe mich nie getraut, meine Oma
zu fragen, was sie damals als junge Frau erlebt hat. Und
jetzt ist sie tot.« Sie wirft sich einen Mangel an Mut
vor. Jetzt hat sie Nachholbedarf, Lesehunger.
Mit »Blankow« reise ich weiter durch Deutschland. Die
Ernsthaftigkeit und Offenheit der Leute berührt mich, die
Bereitschaft mit mir mitzugehen, die Unbefangenheit der Außenstehenden,
die nicht selbst an der Last der deutschen Geschichte zu
tragen hat, anzunehmen, ins Schwarze zu blicken. Ich bin
dankbar, dass das Buch eine solche Wirkung auslöst.
Langsam fiel mir aber auch etwas anderes auf. Es war, als
ob »Blankow« im Osten nicht erschienen sei. Nur einmal
hatte ich in der ehemaligen DDR gelesen – ganz am
Anfang, im Koeppenhaus in Greifswald – und die
regionalen Zeitungen und der Rundfunk schwiegen. War es
dann doch nicht ganz zu Hause angelangt? Haben die zwanzig
Jahre nach der Wende die Menschen in der ehemaligen DDR
ermattet, desillusioniert? Ist das Schweigen hier
allgegenwärtiger, tiefer? Hat es als Selbstschutz endgültig
gewonnen? Vielleicht. Aber so habe ich die ehemaligen
Bewohner von Blankow überhaupt nicht empfunden. Sie haben
eher fieberhaft erzählt. Stundenlang.
Eines Tages stehe ich in Blankow wieder beim Bäckerwagen
und rede mit den Frauen aus dem Weiler. Frau Neumann und
ihre Tochter haben mein Buch natürlich zuerst als Schlüsselroman
gelesen. Und dann nochmal. Was gleich nach dem Krieg mit
den Frauen passiert ist, sagt die Tochter, »wir haben nie
darüber geredet. Jetzt reden wir ständig darüber. Omi,
erzähl mal, wie war es …« Und Omi sucht in ihrem Gedächtnis
nach dem elfjährigen Mädchen, das sie 1945 war, und nach
dem, was sie erlebt und erfahren hat. »Blankow« hat ihr
Gedächtnis belebt. Es handelt von ihrer Lebenswelt.
Als ich hörte, dass »Blankow« mit dem
Annalise-Wagner-Preis ausgezeichnet werden soll, wusste
ich, dass ihm ein drittes Leben vergönnt war und dass es
erst jetzt richtig da ankommen würde, wo es herkam und
hingehört. Wie wichtig mir das ist, möchte ich kurz
skizzieren anhand des heutigen Denkens über das Gedächtnis.
In den Kulturwissenschaften gilt das Gedächtnis
mittlerweile als ein menschliches Phänomen, das alles
durchdringt. Und das Faszinierende ist: Was es genau ist,
wird uns immer wieder entgleiten; oder, wie die englische
Schriftstellerin Virginia Woolf schon sagte: »Memory is
inexplicable.« Wir alle, jeder für sich, wir erinnern
uns, ob wir es wollen, ob wir es wissen oder nicht, wir
alle bestehen nicht nur hauptsächlich aus Wasser, sondern
ebenfalls hauptsächlich aus Gedächtnis. Und auch unsere
Umwelt, unsere Gesellschaften sind sowohl Niederschlag von
Erinnertem als Reiz zum Erinnern.
Das gesamtdeutsche Gedächtnis hat, wie die Nation, rasch
den Charakter einer Einverleibung der DDR in die ehemalige
BRD bekommen; es wird von der westdeutschen Nachkriegszeit
geprägt. Dazu kommt noch, dass das kollektive Gedächtnis
in der DDR das von der SED angeordnete Gedächtnis war. So
ein Gedächtnis versteinert, weil alles andere ausgesperrt
wird. Das Ausgesperrte versucht in privaten Kreisen mehr
oder weniger heimlich zu überleben und ist deswegen kaum
belegt. Ich weiß, es gibt die Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur, und an Universitäten sind
Nischen, die sich mit der DDR beschäftigen. Aber der
Blickwinkel steht fest. Die DDR wird rasch zu einer bloßen
Fußnote der deutschen Geschichte werden. Und so wird das
gesamtdeutsche Kollektivgedächtnis zum Zerrbild werden,
so bleibt das Gedächtnis der ehemaligen DDR-Bürger
ausgegrenzt.
Es ist nicht leicht, den Kurs des Gedächtnistankers zu
korrigieren. Es erfordert viele kleine Schritte, die oft
noch keiner gewagt hat. Zum Beispiel: in Broschüren und
auf Websites der meisten Städte und Regionen im Osten
wird die Zeitgeschichte noch immer ziemlich lückenhaft
dargestellt. Dort spürt man, mit welchen Perioden diese
Gegenden noch immer zu kämpfen haben. So wird der
Zeitabschnitt von 1939 bis 1945 meist übersprungen, und
auch die Nachkriegszeit bleibt unterbelichtet. Die
DDR-Sicht der Vorwendezeit ist überholt, und die
westdeutsche will man – sehr berechtigt – auch nicht
einfach übernehmen. Aber damit das Kollektivgedächtnis
der Zeitgeschichte und den Menschen mehr gerecht wird,
kommt man nicht umhin, die schwierige Erinnerungsarbeit
selbst zu leisten.
Es sind vor allem die vielen kleinen und großen
Initiativen von Bürgern und ihren Organisationen, die ein
Gegengewicht bilden können. Sie haben wie immer sowohl
eine Vorreiterrolle als auch die Aufgabe, nicht aufzugeben
– so wie Annalise Wagner das vorgelebt hat. Sie hat ihr
Leben dem Gedächtnis ihrer Heimat gewidmet, sie hat die
Erinnerungsarbeit leidenschaftlich betrieben, und das in
einer Zeit, in der es, gelinde gesagt, noch weniger
einfach war. Rollenmodelle wie Annalise Wagner sind für
die heutige Aufgabe von größter Bedeutung.
Deswegen ist es mir eine große Ehre, dass »Blankow«
gerade mit dem Annalise-Wagner-Preis ausgezeichnet wird. Für
mich bedeutet es, dass meine, ziemlich experimentelle,
Form der Erinnerungsarbeit und auch der Blick von außen
in Mecklenburg-Strelitz, in der ehemaligen DDR, in
Deutschland gewürdigt wird. Ich betrachte es als
Anerkenntnis der Tatsache, dass die Vergangenheit uns
Menschen immer noch bestimmt und deswegen immer wieder neu
erinnert werden muss in möglichst großer Vielfalt, damit
sie nicht als vollendete Historie oder sogar als mediale
Zerstreuung verharmlost wird und individuelle Schicksale
beiseite schiebt. Ich betrachte es auch als Anerkenntnis
der Tatsache, dass das Gedächtnis kein Archiv, keine
Festplatte ist, sondern ein lebendiges Organ, das unsere
freizügige Obhut braucht, damit wir selbst als Menschen
und Gesellschaft, auch europäisch und weltweit, nicht
verkümmern.
Zum Schluss möchte ich noch den Menschen danken, ohne die
dieses Buch nie in Deutschland erschienen wäre. Danke an
Rainer Weiss und Anya Schutzbach, die beiden Gründer von
Weissbooks; sie verdienen alle Aufmerksamkeit und Achtung,
dass sie als kleiner Verlag den Mut hatten, »Blankow«
herauszugeben – und auch noch so schön! Ihr Glaube an
das Buch, ihre Begeisterung und ihre Energie haben mich
beflügelt.
Danke an Waltraud Hüsmert, die gefeierte Übersetzerin
von »Blankow«. Die Arbeit, die sie geleistet hat, ist
entscheidend gewesen für den Erfolg des Buches. Nichts an
dem deutschen Text ist mir fremd, sie hat ein überragend
tiefes Verständnis für meine Sprache und für die Art
und Weise, in der ich im Leben stehe. Das Lob für »Blankow«
gilt gleichzeitig auch ihrer Sprachgewalt und Hingabe.
Dann möchte ich den Menschen danken, ohne die das Buch überhaupt
nicht zustande
gekommen wäre: den ehemaligen Bewohnern von »Blankow«,
Bewohnern von Dornhain, einer Nachfahrin des Gutbesitzers
Vonnauer und allen, mit denen ich gesprochen habe und die
mir ihre Erinnerungen und ihr Vertrauen geschenkt haben.
Mein Dank gilt auch meinen Freunden auf dem Vorwerk,
Silvia Albu-Stanescu, Ulrike Nauhaus und Ulrich Wüst, mit
denen ich schon seit 1986 befreundet bin. Sie haben meine
Bleibe in und meine Recherchen über Blankow über Jahre
mit großer Anteilnahme verfolgt. Erst sieben Jahre nach
dem Anfang meines Projekts haben sie lesen können, wie
ich ihr Blankow in Literatur verwandelt habe. Ihre
Gelassenheit war ein Zeichen der Freundschaft, wofür ich
sie bewundere und ihnen von ganzem Herzen danke.
Schließlich möchte ich Tijs van den Boomen, meinem Mann,
danken. Er wusste als einziger, was ich suchte,er war immer davon überzeugt, dass daraus etwas
hervorgehen würde, und er hat mir die Einsamkeit, die ich
dazu brauchte, gegönnt.
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