Annalise-Wagner-Preisträger 2006

Laudatio auf den Annalise-Wagner-Preisträger 2006

Prof. Dr. Horst Wernicke, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald,
Präsident des Landesheimatverbandes Mecklenburg-Vorpommern e.V.


Herr Rainer Szczesiak hat mit seinem Buch ein interessantes Thema hochmittelalterlicher Geschichte unseres Raumes aufgegriffen. Das Vorgehen des Autors kennzeichnet ihn als seriösen Wissenschaftler. Nicht die Prillwitzer Idole stellt er eigentlich in den Mittelpunkt seiner Darstellung, sondern er bettet diese tolldreiste Fälschungsgeschichte mehrfach ein: Zum einen in die Geschichte des Niedergangs der slawischen Besiedlung im Tollenseseeraum, in der das lutizische Hauptheiligtum Rethra eine bedeutende Rolle gespielt haben muß. Zum zweiten in die Suche nach dem historischen Rethra, die im 18. Jahrhundert begann, und zum dritten in die aktuelle Diskussion um Rethra, zu der die Archäologen mit ihren Beiträgen stets Neues beigesteuert haben. Zum vierten wird dann die sensationelle Auffindung der Prillwitzer Idole, die als Beweis für die Existenz Rethras an der fiktiven Fundstelle herhalten mussten, und die Geschichte der verführten und verführenden Fälscher, die der Sponholz-Brüder erzählt. Geschickt verbindet der Autor diese unterschiedlichen Erzählstränge, um immer wieder von allgemeinerer Interessenslage ausgehend im positiven Sinne aufklärerisch über die komplizierten historischen Abläufe und deren Aufhellung durch die Forschung zu informieren.

Bevor ich aber nun über das zwischen zwei Buchdeckel gepackte Wissen, den Corpus delicti sozusagen, berichte, einige Worte zum Autor. Herr Szczesiak wurde am 5. 10. 1959 in Neubrandenburg geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach seiner Schulzeit machte er eine Lehre als Uhrmacher. In den Jahren 1983 bis 1987 studierte Herr Szczesaik am Museum für Deutsche Geschichte in Berlin und schloss als Diplom-Museologe (FH) ab. 1989 begann er ein Studium der Ur- und Frühgeschichte, der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, das er 1996 an der Greifswalder Universität mit dem Titel eines Magister Artium abschloss. Seit 1982 arbeitet Herr Szczesiak am Regionalmuseum in Neubrandenburg. Seit 1980 war Herr Szczesiak als ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger tätig und wirkte im Jugendklub „ Heinrich Schliemann“ mit, dessen Leitung er seit 1992 inne hat. Seine wissenschaftlichen Interessen, die sich auch aus den Ausstellungen im Museum und seinen zahlreichen Veröffentlichungen ergeben, sind prähistorische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte Ostmecklenburgs.

Nach einem historiographischen Überblick über die Slawenforschung im Allgemeinen, die Rethraforschung im Besonderen - und den Anteil von Neubrandenburger Forscherpersönlichkeiten an ihr - wird die Geschichte der jungslawischen Zeit erörtert. Es folgt ein Abschnitt über den slawischen Befestigungsbau. Im Kapitel „Rethra im Spiegel der mittelalterlichen Schriftquellen“ werden alle bekannten Textstellen aus Schriftquellen herangezogen. Herr Szczesiak muss konstatieren, daß sie uns nur ungenau über den tatsächlichen topographischen Ort Auskunft geben, so wie dies auch für Vineta der Fall ist. Herrn Szczesiaks Skepsis hinsichtlich der in manchen Geschichtsdarstellungen zu findenden Überbewertung der Bedeutung Rethras, dessen Existenz im Zeitfenster 1005 - 1068 gesichert ist, ist wohl beizustimmen. Die Frage nach dem „Wo lag es nun, dieses Rethra?“, stellt der Autor an dieser Stelle seiner Ausführungen. Der Ur- und Frühgeschichtler Szczesiak hat nun die Möglichkeit, seine Fachdisziplin in die Suche mit ein zu bringen. Zuvor beklagt er zu recht, daß Archäologie und Schriftgeschichtsschreibung zu einander kommen wollen, aber wegen unterschiedlicher Sprachen nicht können. Die beweiskräftige Zuordnung von Funden und Befunden zu einem historisch überlieferten Volk ist schwierig, zumal in so einem kleinräumigen Zusammenhang, wie es derjenige der lutizischen Stämme ist. Die Lutizenstämme  haben darüber hinaus auch eine relativ homogene Kultgemeinschaft gebildet. Die Archäologie hat in den letzten fünfzig Jahren beträchtlichen Zugewinn an Erkenntnissen über Kultur und Lebensweise der Westslawen erbracht. Es ist dem Autor wohl zuzustimmen, wenn er formuliert: „ Im Grunde ist immer noch die Archäologie Informationslieferant Nummer eins. Denn nur aussagekräftige Bodenfunde können letztlich den Beweis für die Entdeckung Rethras erbringen.“ Der Optmismus, der aus der Hoffnung auf einen schlüssigen Beweis spricht, begleitet den Leser, wenn der Autor 15 Örtlichkeiten benennt, die mit Funden und Befunden in Zusammenhang mit Rethra gebracht werden. Herr Szczesiak erklärt nun, was eigentlich zu suchen ist. Es geht wohl weniger um eine Frühstadt, sondern um eine slawische Wallburg, die sich in exponierter Lage an oder in einem See befand und von einem mächtigen Wald umgeben war. Drei Tore sollen vorhanden gewesen sein. In der Burg lag der Haupttempel mit der Gottheit der Lutizen. Doch ohne größere Infrastruktur wäre ein solches Heiligtum nicht denkbar gewesen, zumindest musste eine entsprechende Zuwegung vorhanden gewesen sein, überdies wäre auch an einen Platz für ein Militärlager und an einen Markt zu denken. Unabdingbar müssen in der Nähe der Wallburg Flächen für eine ausreichende landwirtschaftliche Produktion vorhanden gewesen sein. All dies lässt eine Vielzahl von Fundarten möglich erscheinen, da die Tempelburg ein vielbesuchter Ort gewesen sein muss. Ich will hier nicht die einzelnen Argumentationen für und wider diese fünfzehn Standorte besprechen, dazu empfehle ich ausdrücklich die eigene Lektüre. Der Autor stellt sie chronologisch nach ihrer Ersterwähnung als möglicher bzw. tatsächlicher Ort des sagenumwobenen Rethra vor. Die Nennung der Orte will ich mir aber doch nicht versagen, um den Kernraum sichtbar zu machen: Burg Stargard, Wanzka, Feldberg, Tollensesee-Liepsraum - und hier besonders Prillwitz, Usadel und die Fischerinsel, Broda, Gatsch-Eck, Halbinsel Nonnenhof. Die Quintessenz aus den Ausführungen ist: „Rethra liegt weiterhin im Dunkeln der Geschichte verborgen. Daher heißt es auch für die Zukunft: ‚Auf der Suche nach Rethra!‘“

Bis hierher war es spannend für den an Geschichte Interessierten. Es folgt nun der aberwitzige Fall der gefälschten „Prillwitzer Idole“, die nur möglich waren, da selbsternannte Experten Scharlatanen auf den Leim gingen und zugleich ein Markt für solche Kunst da war. Auf der Suche nach ihren slawischen Wurzeln verhalf das Herzogshaus solchen Machenschaften zu einer zeitweiligen Anerkennung. Trotz erwiesener Fälschung hielt eine immer wieder aufflackernde Rezeption das Interesse der Bevölkerung für sie wach. Die Moritat kurzweilig erzählt zu haben, ist dem Autor hoch anzurechnen. Der letzte Teil zeigt, wie anregend die Prillwitzer Idole für Künstler sein können. Es ist eine andere Form der Rezeption.

Herr Szczesiak gibt sich in bescheidener Art als Künder von den Aktivitäten der Neubrandenburger Ausgräber. Insoweit stellt das Buch eine Art Chronik für die archäologische Arbeit am Regionalmuseum Neubrandenburg dar, die stets auf der Suche nach Rethra war, ist und sein wird. Nun werden Sie sich fragen: Warum erzählt dieser Professor uns dies alles? Denkt er etwa, das wir nicht lesen können? Ich erzähle Ihnen dies, weil das Buch für den Annalise-Wagner-Preis des Jahres 2006 vorgeschlagen und von der Jury ausgewählt worden ist. Ich kann der Jury nur gratulieren und beipflichten. Es ist eine im Geiste Annalise Wagners verfasste Schrift. Sie ist der Heimat verbunden, sie zeugt von großer Orts- und Detailkenntnis und sie verfolgt die Absicht, einem größeren Publikum Aufklärung zu geben. All dies wollte Annalise Wagner, jene resolute, immer wieder verletzte, zurückgezogen lebende, doch lebensbejahende Frau, die ihre geistige Auseinandersetzung mit sich führte und nur für eine kurze Zeit mit der Herausgabe der Veröffentlichungen aus dem Karbe-Wagner-Archiv ein Publikum und dadurch Anerkennung fand.

Lieber Herr Szczesiak, die Anerkennung ihres Buches durch den Preis ist Ihnen mit der heutigen Verleihung schon sicher. Ich bin zuversichtlich, daß die Aufnahme in der Öffentlichkeit ebenso sein wird. Herzlichen Glückwunsch, Herr Szczesiak, zu diesem Preis.

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