Meine
Damen und Herren,
seien sie bedankt für einen
Preis, der den Namen Annalise Wagner trägt.
Ich habe sie
persönlich nicht gekannt und bin ihr doch verbunden,
sitze ich, dies schreibend, auf einem Stuhl, ersteigert
aus ihrem Nachlass. Er bedarf der Rekonstruktion, zwei
Schrauben in der Lehne und lose Binsen auf der Sitzfläche.
Auch ihr Wäschekorb, aus Weide versteht sich, ist jeden
Herbst im Einsatz beim Bergen der Äpfel aus dem
Nachbargarten der Brigitte Reimann, vorzugsweise für
Most, „Brigittes Bester“ genannt. Begleitumstände -
ich habe mit dem Preis den Auftrag, sie damit zu
unterhalten.
Das Gedächtnis, griechisch
Mnemosyne, Tochter des Himmels und der Erde, ist die
Mutter der neun Musen, Beschützerinnen von Kunst und
Wissenschaft. Die ersten drei Zeilen der Hymne Hölderlins
auf das Gedächtnis lauten in der zweiten Fassung (1803):
„Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir
und haben fast / die Sprache in der Fremde verloren.“
Das ist die negative Utopie.
Annalise Wagner bin ich nie
begegnet. Ich kann heute in ihr Archiv gehen, das Gedächtnis
dieser Region, oder wieder ihre Broschüren lesen. Eine
Annalise-Wagner-Straße gibt es noch nicht, weder in
Neubrandenburg, warum nicht? wer hat da Angst vor wem?,
noch in Neustrelitz, wo mit dem Kiefernheider Hauptweg
namens Karbe-Wagner-Straße eher ein fauler Kompromiss
verläuft, der nach Marx-Engels-Platz riecht. Ihre
Verdienste verdienen mehr als einen Ort der Wirkung, um
Zeichen zu deuten und eine Sprache dafür zu finden. Der
Preis, aus ihrem Vermögen gestiftet und jährlich in
ihrem Namen verliehen, erinnert an Wirksamkeit, Weitsicht
und Feinsinn einer Bürgerin, die von vielen ihrer
Zeitgenossen als unzeitgemäß empfunden wurde - und wird.
Ein schwieriger Mensch, aber leichter sei es keinem
gemacht, ihr Lebenswerk zu wichten.
Ich kam in diese Landschaft,
als sie sich zurückzog zum Sterben. Enttäuscht von ihrer
Heimatstadt Neustrelitz und im letzten Testament deutlich
genug formuliert, hat sie außer Wohnhaus, Grundstück und
Archiv alle persönlichen Gegenstände der vormaligen
Stadt- und Bezirksbibliothek Neubrandenburg übereignet, für
sie eine letzte Erbin der verloren gegangenen
Landesbibliothek der einstigen Residenz. Zu der Zeit, es
muss Sommer 1980 gewesen sein, fuhr ich mit dem Moped S 51
von Berlin aus auf der Fernverkehrsstraße 96 nach Norden
Richtung Ostsee und musste absteigen beim Anblick des
gelobten Landes am Höhenzug der Hellberge nahe Ehrenhof
und Usadel. Walter Gotsmann, auch ein Heimatforscher, hat
in der Nähe einen Stein bekommen, den fand ich erst später.
Eine Wasserscheide, weiß ich heute; wer sie übertritt,
geht in die Entwässerung Richtung Osten, weil eben hier,
Tollense – Peene – Ostsee von Havel – Elbe –
Nordsee, die Strelitzer Gewässer getrennt sind in Abfluss
Nordost oder Südwest. Auch beim Wetter, die Grenze. Das
Tollensebecken am Parkplatz Usadel neben dem Mitropa-Motel
(heute eine skandalöse Ruine) war ein Tor zur Welt (Übrigens
gibt es mindestens zwei ebenso spektakuläre Wasser-Blicke
auf die Strelitzer Fjorde, der eine vor Wanzka an der Mühle,
die Koppel rechts hoch bis zum einzigen Baum und weit über
den See bis zur Eisenbahn; der andere in Carwitz, am
Eingang, links geradeaus in den Schmalen Luzin, wo er
abknickt nach dem Bäk zu). Ich sah mich satt. Tante
Friedel und Onkel Hans in der Neutorstraße 22 in 20
Neubrandenburg (Architekt Tessenows Haus, das wusste ich
erst später, hoch unter dem Dach mit schrägen Wänden
und eine schmale Stiege steil hinauf) mussten warten mit
dem Kakao für den Durchreisenden, der von 1982 bis 1985
öfter kam, weil er zu lernen und zu arbeiten hatte,
Montags bis Freitags bei der Wasserwirtschaft in der
Oststadt, jeden früh am Panzer vorbei, der heute fehlt für
ein Museum.
Dann war es die
Reichsbahnstrecke 910, viel frequentiert für die Reise
zwischen Bezirksstadt und Hauptstadt der DDR, Neustrelitz
kein Grund zum Aussteigen, es sie denn
Schienenersatzverkehr. Das war einmal, auf der anderen
Seite der Nacht leuchtete fern Alt Rehse, wo ich im
Pfarrhaus Leute kannte, die mir nahe waren, und ich
schrieb ihnen ein Gedicht. Als die Reichsbahnstrecke 910
unwichtiger wurde zum Fortbewegen, weil mich mehr hielt in
Mecklenburg, wurde wichtiger das kleine Puppentheater im
Kosmosgebäude Neubrandenburgs, Funktionsbau-Flachstrecke
in Plattenbauweise am Karl-Marx-Platz, wo mit Fingern eine
Welt zu greifen war, an Fäden subtile Katastrophen hingen
und frei stehende Bauern ihr Pferd über dem Kopf
zerrissen. Da wollte ich hin. Vier Monate musste ich
warten nach Abitur und Facharbeiterbrief
(Wasserwirtschaft, Sie erinnern sich), pflanzte
Kiefern derweil am Reitbahnsee beim VEB Wirtschaftbetrieb
Naherholung, dann gehörte ich dazu: Assistent. Das ging
drei Jahre, dann wollte ich das Studieren.
Theater-Wissen-Schaft. Das klappte auch, nur die Armee ließ
warten, weil ich nicht schießen wollte, ich war jung und
hatte Frau und Kinder (sie seien an dieser Stelle bedankt
für jede nicht aufgeräumte Ecke.)
Ein alter Fachwerk-Kasten,
abgestützt mit Kiefernbalken, ein Erker über der
Pfaffenstraße, war es, der es mal werden sollte - das
alte neue Theater Neubrandenburgs. 1988, im späten
Herbst, alles auf Endzeit, wie lange noch, war es Gisela
Templin, Intendantin (sie sei heute auch bedankt für den
Auftrag), die mich fragte: „Willst du dich darum kümmern,
was da war?“ Ich kümmerte mich. Fuhr nach Neustrelitz,
ins Karbe-Wagner-Archiv, las, staunte, notierte. Im April
1989 wusste ich einiges und trug vor. Zwei schmale Hefte
der Annalise Wagner waren mein Ausgangspunkt, ihren nicht
genannten Quellen suchte ich später hinterher. Als ich
dann 1990 schnell studieren musste, weil es teuer wurde,
blieb ich bei der Suche, weil zwei junge dänische
Architekten (Irene
Jensen und Carl-Christian Hansen, auch sie seien heute
bedankt für ihre Genauigkeit) das alte Schauspielhaus
Brett für Brett umdrehten und vermaßen für die
Rekonstruktion. Schon zum Richtfest konnten wir
Theaterzettel A3 aufhängen, gefunden im Theaterarchiv
Neustrelitz im Jahrbuch zur dortigen Spielzeit, 1830,
1840, usw. Im April 1994 zur Eröffnung des
Schauspielhauses gab es eine kurze Reprise der Einweihung
1787, „Die Reise der Schauspieler“ von Johann Carl
Christian Fischer, gefunden in der Mecklenburgischen
Landesbibliothek am Dom in Schwerin, das einzig
verbliebene Exemplar mit dem Stempel ‚Großherzogliche
Bibliothek Neustrelitz’ und dem zweiten Stempel in rot
‚Ungültig’ darüber, nunmehr gerettet als Reprint,
herausgegeben und kommentiert.
1996 hatte ich fertig bei
Humboldts in Berlin als Magister und kein Ort nirgends zum
bezahlten Arbeiten, es sei denn ABM als Heimatforscher, wo
ich doch Theater machen wollte und musste. Da sparte das
Theater 2 Jahre kräftig an mir, denn die Heimatforschung
musste endlich nur aufgeschrieben werden fürs Museum, das
darauf wartete. Das zog sich hin, wegen viel Theater.
Heraus kam, was heute geehrt wird - und also Sinn hatte
auch für andere. Die Geschichte des ersten und letzten
eigenständigen Neubrandenburger Theaterversuchs, der
implodierte, ehe der Rest 2001 fusionstüchtig war, gehört
dazu und ist darin aufgehoben. Und so ehrten sie sie,
indem sie sich nützten, und hatten sie also verstanden,
sie kennen das. Über den Inhalt der 2 Hefte kann ich
nicht viel mehr sagen als das Papier hergibt; wer es mag,
mag es lesen.
Heute bin ich oft die Hälfte
meiner Zeit in Neustrelitz und laufe noch immer wie ein
Fremder durch die Stadt, weil ich den Blick behalten möchte
der Distanz und Frische, unverstellt, weil sonst nichts zu
erkennen ist. Den Knast kenne ich inzwischen in- und
auswendig, der letzte macht das Licht aus, wegen Hans
Fallada, „Der Trinker“. 2 Jahre hat der mich gekostet.
Aber nicht abgesessen, sondern aufgespielt. Das ist im
Alten Strelitz, dort wo einmal das erste Schloss stand,
bei Regen läuft es immer noch in den zugeschütteten
Schlossgraben hin zur Mauer, davor der Zaun mit
Stacheldraht nach
Standard NATO 2. Aber die kaum entfernte Residenzstadt
- was ist das? Das interessiert mich noch als Phänomen,
ist mir fremd wie balinesischer Hahnenkampf oder
Indianerriten. Vielleicht zieht mich die zweite
Staatsoperette der Luise von Mecklenburg-Strelitz, die ich
abzuleisten habe bis nächsten Sommer, etwas näher an die
Brust…Dass über dieser Landschaft Bomben spazieren
geflogen werden sollen, ist mir unerträglich.
Was ich von Annalise Wagner
habe, mag etwa Ausdauer sein; was uns unterscheidet ist
die Methode. Das Sammeln und Versammeln ist die eine Hälfte,
das Ausbreiten des Materials
eine andere. „Dichte Beschreibung“ heißt meine
Arbeitsweise. Es sei vermerkt, dass der Blick auf das Gewöhnliche
an Orten, wo es in „ungewohnten Formen“ auftritt,
Bedeutungen entdeckt, die variieren entsprechend den
Lebensmustern, von denen sie bestimmt werden, denn: „Das
Verstehen der Kultur eines Volkes führt dazu, seine
Normalität zu enthüllen, ohne dass seine Besonderheit
dabei zu kurz käme“, so der amerikanische
Kulturanthropologe Clifford Geertz zu seiner Methode der
„Dichten Beschreibung“, das sind Beiträge zum
Verstehen kultureller Systeme, denen ich viel Handwerk
verdanke. So viel zur Forschung.
Schließlich Heimat, ein großes
Wort, viel missbraucht in Blut und Boden; es darf nicht
verrotten zum Kampfbegriff der Krieger. „In der Fremde
muss man genau, einfach und ohne Hoffnung reden,
vielleicht versteht es doch einer, so Uwe Johnson; Heimat
könne man sich im Jahrhundert der Migrationen auch
erwerben durch Zuwendung,
Kenntnisse. Und endlich: „Heimat ist der Mensch, dessen
Wesen wir vernehmen und erreichen.“ (Max Frisch)
In
diesem Sinne danke ich ihnen für die Aufmerksamkeit und
den Preis.
|