Lobende Anerkennung für junge Autoren 2005

Elisabeth Hofmann:

Viele Wege führen zu Ernst Barlach : Kunst kommunizieren

Viele Wege führen zu Ernst Barlach und eine nicht geringere Anzahl von Fährten weist wiederum von Barlach aus in verschiedenste Richtungen. In meiner Arbeit nähere ich mich dem Künstler über seine Briefe und Annalise Wagners Schriften und folge von ihm aus den Pfaden nach Strelitz bzw. Neustrelitz.

Wer aber und was hat mich auf die richtige Spur gebracht? Wo befanden sich die entscheidenden Wegweiser?Als ich im September 2003 mein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich der Denkmalpflege in der Ernst Barlach Stiftung Güstrow antrat, traf ich dort nicht nur den mir bekannten Bildhauer, sondern auch den Graphiker, Zeichner und Schriftsteller Ernst Barlach. Um mich mit letzterem vertraut zu machen, riet mir Frau Tessenow, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung: „Lesen Sie seine Briefe!“ Der Umfang von zwei dicken Bänden sollte kein Hindernis sein. Schon die Lektüre des ersten Briefes überraschte: Der Adressat war ein Strelitzer. Die unerwarteten Begegnungen setzte sich fort: Barlachs Jugendliebe stammte aus Strelitz, er selbst verweilte zu Besuch an diesem Ort, bevor dann später sein Bruder und sein Sohn am Strelitzer Technikum studierten und er sich brieflich mit einem Lehrer am Carolinums austauschte.

Bei einer Ausstellungseröffnung in der Kachelofenfabrik Neustrelitz erzählte ich schließlich Frau Tschepego, Mitarbeiterin des Karbe-Wagner-Archivs, von meinen „Entdeckungen“, worauf sie entgegnete, dass im Archiv eine Totenmaske des Künstlers liege, Annalise Wagner sich intensiv mit Barlach auseinandergesetzt und mit dessen verwitweten Lebensgefährtin Marga Böhmer einen regen Kontakt gepflegt habe. Auch in der Regionalbibliothek Neubrandenburg könne ich fündig werden, dort sei der Großteil von Annalise Wagners Barlach-Sammlung aufbewahrt. Bald darauf gewährte mir Herr Dr. Probst, Geschäftsführer der Ernst Barlach Stiftung Güstrow, eine vorweihnachtliche „Dienstreise“ in das Karbe-Wagner-Archiv, wo ich mich durch den Inhalt einer Kiste mit der Aufschrift „Barlach“ arbeitete. Während der kalten Neujahrstage empfing mich dann Frau Birkenkampf in der Regionalbibliothek Neubrandenburg – mit einem heißen Cappuccino und den Manuskripten des bearbeiteten Briefwechsels von Annalise Wagner und Marga Böhmer. Auch in den folgenden Monaten erhielt ich von ihr immer wieder wertvolle Literaturtipps und zur Weiterarbeit aufmunternde Grüße. Der Anfang des Sommers 2004 gesetzte Schlusspunkt war nur ein vermeintlicher – die Korrekturen und Anregungen von Herrn Dr. Probst und Frau Thieme, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ernst Barlach Stiftung, gaben Anlass zur umfangreichen Überarbeitung. Auch mit dem Ende des Freiwilligen Jahres im August 2004 lag nicht die endgültige Textfassung vor. Die sorgfältige Lektorentätigkeit von Frau Tschepego, die die Redaktion der Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs leitet, ließ mich die Arbeit noch einmal mit anderen Augen lesen.

Annalise Wagner hat sich auf eine stark subjektive und zumeist empirische Weise mit ihrer Umwelt auseinandergesetzt. Nicht in diesem Maße, jedoch im Ansatz vertritt auch meine Arbeit eine solche Sichtweise. Ihr radikales Rekurrieren auf die eigene Wahrnehmung und den persönlichen Standpunkt mag Annalise Wagner letztendlich die wissenschaftliche Anerkennung verwehrt haben, doch ist diese Form der Äußerung in höchstem Maße aufrichtig und couragiert. Es stellt sich die Frage, ob die sogenannte wissenschaftliche Objektivität in ihrer behaupteten Absolutheit nicht ein Phantom der Wissenschaft bezeichnet. Handelt es sich hier nicht vielmehr um subjektive Erkenntnisse mit Allgemeingültigkeitsanspruch, um Übereinkommen und Kompromisse? Das hierin verborgene Gefahrenpotential lässt sich insbesondere an der deutschen Geschichte beobachten. Aktuelle Überlegungen in der Kunstgeschichte scheinen da zukunftsweisend und ich schlage vor, diese allgemein auf historische Betrachtungen beziehen: Wir befinden uns dabei immer im „Spannungsfeld zwischen Zeitgebundenheit und Zeitgenossenschaft“[1] – und, so ließe sich fortsetzen, im Spannungsfeld zwischen der Gebundenheit an die subjektive Wahrnehmung und der reflexiven Fähigkeit, diese selbst zum Objekt der Betrachtung zu machen oder zu versuchen, die Perspektive anderer Subjekte einzunehmen.

Gerade diese Möglichkeit, die Welt vom Standpunkt eines anderen aus – in meiner Arbeit sind dies die Blickwinkel von Ernst Barlach und Annalise Wagner – betrachten zu können, halte ich in manchen Fällen für erkenntnisreicher als den Versuch, eine Situation „objektiv“ zu betrachten. So ist es beispielsweise unmöglich, die Grausamkeit des Nationalsozialismus anhand der nackten historischen Fakten zu begreifen. Wenn jedoch in Barlachs Briefen die persönlichen Bedrängnisse und Ängste anklingen, dann kann der Leser die Schrecken zumindest erahnen.

Auch die polarisierenden Äußerungen von Annalise Wagner haben gegenüber den objektiv glatten Schilderungen den Vorteil, dass sich hier anregende Reibungspunkte bieten, die zudem eine eigene Stellungnahme provozieren. So begreife ich Texte nicht als hermetisch oder dogmatisch, sondern als Diskussionsangebot. Letztendlich, um noch einmal ein Statement anlässlich des diesjährigen Kunsthistorikertages zu zitieren, handeln wir, „wenn wir an der Vergegenwärtigung der Werke und des Wissens über sie arbeiten, in der Gegenwart und sind ihr mithin auch verantwortlich.“[2]

Ein zweiter Aspekt erscheint mir insbesondere bei der Wahl der persönlichen Perspektive eines Künstlers bedeutsam. Gewöhnlich beschränkt sich unsere Begegnung mit einem Maler, Bildhauer oder Graphiker auf den musealen Raum. Manchmal versuchen wir auch, uns ein Bild von seinem lokalen Umfeld zu machen und in einigen Fällen ist es sogar möglich, Einblick in sein Atelier zu erhalten. Jedoch besitzt bei verstorbenen Künstlern auch dieser ehemalige Arbeitsraum eher musealen Charakter. Indem somit der Künstler nur in Form seiner Werke präsent ist, ohne jeglichen Eindruck des Privaten oder Alltäglichen, rückt das verbindende Allzumenschliche seiner Persönlichkeit in weite Ferne.

Die Lektüre von Barlachs Briefen ermöglicht eine andere Erfahrung. Hier lassen sich Probleme, die zum Beispiel bei der  Erziehung von Kindern auftreten, oder Erlebnisse wie die erste Liebe wiederfinden, die heute noch eine ähnliche Relevanz besitzen. Durch solche Beobachtungen kann schließlich auch ein an der bildenden Kunst weniger interessiertes Publikum Zugang zu dieser finden, um dann eventuell im nächsten Schritt die „biographischen Stützen“ abzulegen und sich ganz auf die alleinige Existenz der Kunstwerke einzulassen. Die persönliche Hinführung baut mögliche Hemmschwellen ab, macht neugierig – so hoffentlich auch mein vorliegender Text zu Barlach, denn ich halte Kunst im umfassendsten Sinne als für den Menschen unverzichtbar:

         Hans Manz: Ärgerlich

         Schon immer wollten welche
         der Erde entfliehen:
         Erfinder,
         Konstrukteure,
         Piloten,
         Astronauten –
         weit über die Wolken hinaus,
         auf den Mond,
         tief in den Weltraum hinein.

         Und schon immer
         Waren andere früher dort gewesen:
         Phantasten,
         Träumer,
         Geschichtenerzähler
         Geschichtenleser.

Diesen schlichten Versen von Hans Manz ließe sich gegenüberstellen:

         Zuversichtlich

         Schon immer wollten welche
         die Welt verstehen und verbessern:
         Naturwissenschaftler,
         Techniker,
         Politiker,
         Juristen –
         weit über die Gesetze hinaus,
         für das allgemeine Wohlergehen,
         tief in die Gesellschaft hinein.

         Und schon immer
         haben andere früher das Wesentliche erahnt,
         die Gegenwart in Frage gestellt
          und andere Welten erprobt:

          Künstler,
         Schreibende,
         Zuhörer,
         Betrachter.

Zu Recht stehen diese Zeilen unter dem Verdacht des Idealismus, ungerechtfertigt jedoch wäre der Vorwurf „antiquiert“ – Im Schiller-Jahr ist das Nachdenken „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von besonderer Aktualität, wie zahlreiche Veranstaltungen und Publikationen belegen. Eine differenzierte Reflexion „Über Schönheit“ provozierte bis zum 16. Mai die gleichnamige Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, wo zudem eine internationalen Konferenz „The re-turn of beauty“ diskutierte und u.a. nach den gerechtigkeitsstiftenden Potentialen von Schönheit fragte. Zwei Wochen darauf disputierten auf einem Symposium in der Akademie der Künste Berlin Künstler und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen über die „Freiheit Kunst. autonom, authentisch, autistisch – Thesen und Kunstobjekte“.
Wenn wir also wieder den Gedanken von der lebensgestaltenden Wirkungskraft der Kunst äußern können, wenn es uns möglich ist, große Begriffe wie „das Schöne“ und „Freiheit“ zu denken und auszusprechen, dann gelingt es vielleicht auch mithilfe von Büchern, Bildwerken, Skulpturen und musikalischen Kompositionen uns über „das Wahre“ und „das Gute“ zu befragen. In diesem Sinne: Wir bleiben im Gespräch ...


[1] Gabi Dolff-Bonekämper, in: Programmheft des 28. Deutschen Kunsthistorikertages, Universität Bonn, 16.-20.03.2005: Zeitgenossenschaft als Herausforderung. Der Status der Kunstgeschichte heute, S. 1

[2] Ebd.

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