Marco Zabel: Annalise Wagner (1903 - 1986)

Quelle:

Unbequeme Streiterin für historische Werte : die Heimatforscherin Annalise Wagner wäre im Juni 100 Jahre alt geworden / Marco Zabel. – In: Anzeigenkurier. - Neubrandenburg (2003-04-09)15. - S. 21

Eine Straße und ein Archiv in Neustrelitz, eine Stiftung in Neubrandenburg – sie tragen ihren Namen: Annalise Wagner. Im Jahr 2003 wäre die Neustrelitzer Ehrenbürgerin 100 Jahre alt geworden.Annalise Wagner wurde am 19. Juni 1903 als drittes von fünf Kindern des Neustrelitzer Druckereibesitzers Otto Wagner und seiner Frau Ella, geb. Baade, geboren. Von 1908 bis 1918 besuchte sie in ihrer Vaterstadt die Schule und nahm dann eine Lehre im Betrieb des Vaters auf. Von 1919 an besuchte sie ihre „Universitäten“, wie sie die Aufenthalte in Hamburg, Berlin, München, Leipzig sowie in Brunshaupten und Burg b. Magdeburg nennt, die nur durch immer wiederkehrende Station in Neustrelitz unterbrochen werden. Dank ihrer Anstellungen, vornehmlich in Buchhandlungen und Verlagen, stand sie auf eigenen Beinen, wodurch sie auch Freundinnen finanziell unterstützen konnte, und eignete sich zusätzliche Kenntnisse ihrer Branche an. Ausdruck ihres Wunsches nach beruflichem Fortkommen ist der hervorragende Abschluss der Leipziger Buchhändler-Lehranstalt 1929. Prägender noch als die berufliche Entwicklung erwiesen sich für Annalise Wagner Freundschaften dieser Zeit und das reiche großstädtische Kulturangebot, dem sie viele Impulse verdankt. Sie besucht die großen Kunstausstellungen der Zeit, lässt sich in den Bann moderner Theateraufführungen ziehen und sucht den Kontakt zu Künstlern wie Malern, Bildhauern und Schriftstellern. Am bekanntesten sind Ernst Barlach und Käthe Kollwitz. Letztere besucht sie in ihrem Berliner Atelier.Von vielfältigen Anregungen und Eindrücken angefüllt, sah Annalise Wagner ihre Aufgabe vor allem in der Vermittlung ihrer Gedanken und Erkenntnisse. Ab 1931 wieder nach Neustrelitz zurückgekehrt, sucht sie mit mehreren Vorträgen zu künstlerischen, religiösen und philosophischen Themen die Öffentlichkeit. Sie schreibt über Kunst und Künstler der Gegenwart und veröffentlicht darüber hinaus eigene Lyrik. Doch gerade für die eigenen Arbeiten, zu denen auch dramatische Werke gehören, bleibt der Erfolg aus. Umfangreiche Bemühungen, einen Verleger zu finden, scheiterten allesamt. So verwundert es kaum, dass sich Annalise Wagner auf die ihr zu Gebote stehenden Mittel besann. Sie schmiedet Pläne für weitreichende verlegerische Vorhaben. Auch Kooperationen kommen in Betracht. Seit 1933 hatte sie die der Druckerei angeschlossene Buch- und Papierhandlung, zu der auch eine kleine Verlagsabteilung gehörte, in Eigenregie übernommen. Entgegen anderen Ambitionen bildete Heimatliches den Kern des Verlagsprogramms. Ihre Buchhandlung führte Annalise Wagner auch in der NS-Zeit weiter – bis sie 1943 zwangsweise geschlossen wurde. Vor 1933 hatte sie mit Teilen der NS-Ideologie sympathisiert, war dann aber auch selbst Benachteiligung und Verfolgung ausgesetzt.Zum Kriegsende 1945 war sie Gartenarbeiterin einer Neustrelitzer Gärtnerei. In ihrer Heimatstadt erlebte sie die mit der Befreiung einhergehenden Gräuel. Erschüttert von den Eindrücken dieser Tage und von den Ergebnissen der vorangehenden zwölf Jahre engagierte sie sich nun erstmals direkt politisch. Für die Liberaldemokratische Partei LDP(D) war sie Stadtverordnete und Mitglied mehrerer Ausschüsse, wo sie sich vor allem für soziale Belange einsetzte. Ein weiterer Schwerpunkt Annalise Wagners Arbeit war ihr Einsatz für die Rechte der Frauen. In Neustrelitz war sie aktiv an der Gründung des Demokratischen Frauenbundes DFD beteiligt. Unter fadenscheinigen Gründen war sie jedoch schon 1948 gezwungen worden, ihre politische Arbeit zu beenden, so dass sie abermals einen Neubeginn bewältigen musste. 1949 erhielt Annalise Wagner die Genehmigung, ihre Buchhandlung wieder zu eröffnen. Vor allem die Abteilung Antiquariat und Kunsthandel hatte bald den Status einer festen Institution erreicht. Firma und Ladengeschäft erloschen im Jahre 1960. Zuvor hatte Annalise Wagner die private Sammlung des Neustrelitzer Konservators und Heimatforschers Walter Karbe geerbt und am 6. Dezember 1956 als nutzbares Privatarchiv der Öffentlichkeit geöffnet. Im Jahr 1957 konnte sie Walter Karbe mit dem im Hinstorff-Verlag erschienenen Buch „Der sich die Heimat erwanderte“ ein weiteres Denkmal setzen. Ihre weitere Arbeit orientierte sich an seiner. Nach dem schmerzlichen Verlust von Landesarchiv (1934 nach Schwerin geschafft und dort dem Landeshauptarchiv einverleibt), von Landesmuseum (1945 beim Brand des Neustrelitzer Schlosses ausgelöscht) und von Landesbibliothek (1950 aufgelöst und auf verschiedene Bibliotheken aufgeteilt)  ein neues „Gedächtnis“ für Mecklenburg-Strelitz zu schaffen, war ihr Ziel. Annalise Wagners Bemühen bestand zunächst darin, die Sammlungen zu erweitern und in die Hände einer staatlichen Einrichtung oder Organisation zu geben. Statt dessen konnte sie 1965 für ihr „Karbe-Wagner-Archiv“ (KWA) tatsächlich die staatliche Anerkennung erreichen. Zugleich schuf sie die Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs, mit der sie die Lücke heimatkundlichen Schrifttums im Bezirk Neubrandenburg zu schließen versuchte. Der Erfolg der Hefte – die ersten 13 stammen von ihr oder sie war zumindest federführend beteiligt – gab ihr Recht. Einige waren nach wenigen Tagen ausverkauft und erreichten mehrere Auflagen. Begehrt waren sie auch in der Bundesrepublik.Nachdem sie von 1960 an als „Sachbearbeiterin für die Stadtchronik“ in Diensten der Stadt Neustrelitz gestanden hatte, wurde das KWA 1965 Außenstelle des Müritz-Museums Waren. 1970 nahm Annalise Wagner ein neues Arbeitsverhältnis als Leiterin des KWA beim Rat der Stadt Neustrelitz auf.
Zum Jahresbeginn 1973 schenkte Annalise Wagner „ihrer“ Stadt Neustrelitz Wohnhaus samt Grundstück und Archiv, dessen Sammlungen bis dahin ihr Privatbesitz geblieben waren. Daraufhin wurde ihr die Neustrelitzer Ehrenbürgerwürde zuteil. Auch die Eröffnung des Museums der Stadt im gleichen Jahr im Haus Gutenbergstraße 3 geht maßgeblich auf sie zurück. Der Grundstein für ein neues „Gedächtnis“ in Neustrelitz war damit gelegt. Trotz öffentlicher Ehrung blieben Einschränkungen ihrer Arbeit, vor allem ihrer Publikationstätigkeit, an der Tagesordnung. Annalise Wagners Texte waren manchem Verantwortlichen ein Dorn im Auge. Mit dem Ende ihrer Tätigkeit im Archiv 1974 verringerte sich auch der Umfang ihrer Veröffentlichungen. Als unbequeme Mahnerin und Streiterin für die überkommenen historischen, vor allem kulturellen, Werte ihrer Heimat blieb sie „Eckstein“ und zugleich Anlaufpunkt vieler Natur- und Heimatfreunde. Annalise Wagner schrieb viele hundert Zeitungsartikel und war Autorin des in Göttingen herausgegebenen „Carolinums“, der Zeitschrift der Altschülerschaft des Gymnasiums Carolinum. Den Gedanken der Einheit Deutschlands nie aufgebend, war sie Brücke zwischen Mecklenburgern in Ost und West.Am 26. Juni 1986 starb Annalise Wagner in ihrer Wohnung in Neustrelitz. Ihren Nachlass hatte sie der Stadt- und Bezirksbibliothek Neubrandenburg vermacht. Bei der heutigen Regionalbibliothek wurde 1991 mit dem hinterlassenen Barvermögen die Annalise-Wagner-Stiftung errichtet, die im Sinne Annalise Wagners heimatkundliches Schrifttum aus und über Mecklenburg-Strelitz und das Stargarder Land durch die Vergabe eines regionalen Literaturpreises – des „Annalise-Wagner-Preises“ - fördert. 

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