Mohr, Gudrun: Erinnerungen an Annalise Wagner: zum 10. Todestag am 26.6.1996
Wenn ich an meine Begegnungen mit Annalise Wagner zurückdenke, dann sehe ich uns an ihrem großen, runden Wohnzimmertisch sitzen. Sie erzählt. Die Gedanken gehen zielsicher durch die Jahrzehnte, verknüpfen mühelos Lebensläufe und Ereignisse. Ich bin still und höre ihr fasziniert zu.
Wie oft wünschte ich mir, diese hoch interessanten Informationen zu Land und Leuten aufzeichnen zu können, am besten mit einem Recorder. Niemals würde ich das alles in meinem Gedächtnis speichern und verarbeiten können, was mir da innerhalb von zwei Stunden zuflog. Aber wir sind nie dazu gekommen, eine solche Möglichkeit ernsthaft zu erwägen, und vielleicht wäre Annalise Wagner dazu auch nicht bereit gewesen. Die Erfahrung ließ sie befürchten, daß Gesagtes wieder gegen sie verwendet werden könnte. Wie sehr dieses Mißtrauen begründet war, wird jeder verstehen, der sich näher mit ihrem Lebenslauf bekanntmacht.
Ebenso in Erinnerung geblieben ist mir ihr unerschütterlicher Glaube an eine Zukunft, welche die Mauern der Ignoranz überwunden, erlittenes Unrecht gesühnt haben wird. Jedem - auch ihr - werde Gerechtigkeit widerfahren. Im Zusammenhang mit dem Erwerb ihrer Ernst-Barlach-Sammlung durch die damalige Stadt- und Bezirksbibliothek Neubrandenburg schrieb sie mir 1985: "Da sich heute viele ‚Schriftsteller' anmaßen, über Barlach schreiben zu können, aber weder den großen Individualisten noch Gottsucher erkennen oder wahrhaben wollen, schreiben sie aus zeitgenössischer Tendenz drauflos ... Genauso wie sie meinen Walter Karbe belächeln und mißachten, obwohl er ein großer Sozialist war, und sein universales Wissen, das er mit größter Freigiebigkeit jung und alt fünfzig Jahre lang vermittelte in Wort, Schrift und Exponat ... Bewahren Sie mein Archiv (gemeint ist hier die Ernst-Barlach-Sammlung) vorläufig zünftig auf, bis Sie über Platz und Ordnung verfügen, auch wenn es Jahre sind. Barlach wird erst nach 1990 verstanden, vielleicht erst im neuen beginnenden Zeitalter des Wassermanns (ab 2000). Sie werden es noch erleben !"
Als ich zu DDR-Zeiten einmal einen sachlicheren Umgang mit Annalise Wagner, ihrem Können und Wollen, einforderte, hieß es: "Die Wagner ist eine Kommunistenhasserin, mit der kann man nicht umgehen:" Und kurz nach der Wende verstieg sich ein anderer in die Behauptung, Annalise Wagner sei eine aktive Nazi-Parteigängerin gewesen. Pastor Winfried Wegener dagegen schilderte sie in seiner Predigt zur Trauerfeier am 1. Juli 1986 als einen Menschen, "der nicht schnell kompromißbereit war. Sie war eine Kämpfernatur. Aber gerade in ihrer kompromißlosen Haltung konnte sie Werte erarbeiten und erhalten, die für die Geschichte des Strelitzer Landes und darüber hinaus von Bedeutung sind. Der Wert eines Menschen wird nicht darin liegen, daß er sich beliebt gemacht hat, sondern daß er sich selbst und der Verantwortung vor Gott treu geblieben ist."
Annalise Wagners Lebenslauf berührte kaum die großen Schauplätze deutscher Geschichte, trotzdem ist diese in ihrem Leben allgegenwärtig gewesen mit Hoffnungen, Irrtümern, Enttäuschungen, wieder Hoffnung, wieder Enttäuschung - betroffen wie viele andere ihrer Generation.
Annalise Wagner wurde als drittes Kind der Drucker- und Buchhändler - Familie Wagner am 19. 6. 1903 in Neustrelitz geboren. In der Kinder- und Jugendzeit und auch während der ersten Lehrjahre im Betrieb der Eltern lebte sie in dem Haus, in welchem sich heute das von ihr initiierte Stadtmuseum und (im Hofgebäude) das von ihr gestiftete Karbe-Wagner-Archiv befinden.
Hamburg, Leipzig, München, Berlin waren weitere Stationen auf ihrem Weg. Als aufgeschlossener und vielseitig interessierter junger Mensch empfing sie hier unendlich viele geistige Anregungen. "So sah ich in meinen Lehr- und Wanderjahren als große Freundin des Theaters Schauspiele von Ibsen, Sudermann, Hauptmann, später Friedrich Wolf, Ferdinand Bruckner, Wedekind u. a., die alle revolutionsgeschwängert waren und mich begeisterten. Ich besuchte ... die Volkshochschule, die von der SPD geleitet wurde und meist auch solche Dozenten hatte ... Ich fand es hoch interessant, die Menschen der Umgebung zu analysieren. Es regte sich damals meine starke charakterologische Leidenschaft, die sich seit Leipzig (als Gasthörerin bei Ludwig Klages u. a. bedeutenden Psychologen) als dauerhaft erwies und mich bis heute nicht verläßt ...". Den modernen bildenden Künstlern war sie ebenso zugetan wie den zeitgenössischen Literaten. Zu manchem suchte sie persönlichen Kontakt, beispielsweise zu Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach. Sie begann zu schreiben - Gedichte, Prosatexte, kulturgeschichtliche Abhandlungen. Ihre erste Veröffentlichung überhaupt - es war ein Beitrag für die "Rostocker Zeitung" - widmete sie dem Schaffen von Käthe Kollwitz.
In München frischte Annalise Wagner die aus Neustrelitz herrührende Bekanntschaft mit der Schwiegertochter des Neustrelitzer Malers Wilhelm Riefstahl (1827 - 1888) auf. Sie ordnete dessen Nachlaß und auch den seines bereits verstorbenen Sohnes Dr. Erich Riefstahl. "Nach vielen sauren Wochen und Monaten hatte ich mit peinlicher Genauigkeit mir ein Lebensbild des Malers erarbeitet." Im Ergebnis dieser Mühen entstand das 200 Seiten umfassende Manuskript einer Biographie und ein Aufsatz über den Künstler, den die von Johannes Gillhoff begründeten "Mecklenburgischen Monatshefte" im Oktober 1927 zum 100. Geburtstag des Malers veröffentlichten.
1930 kehrte sie endgültig in ihre Heimatstadt zurück. Inzwischen hatte sie die Ausbildung als Buchhändlerin abgeschlossen und beabsichtigte, diesen Beruf in Neustrelitz auszuüben. Das gelang ihr auch - zwar verbunden mit vielen Schwierigkeiten - über zwei Jahrzehnte. Vorerst arbeitete sie aber als Gehilfin im väterlichen Betrieb. Der Vater Otto Wagner (1866 - 1930), eine stadtbekannte und geachtete Persönlichkeit, entschloß sich kurz vor seinem Tod, den Betrieb in die Hände der Kinder zu geben. Tochter Annalise übernahm die Buch- und Papierhandlung, ihr jüngerer Bruder Friedrich Wilhelm die Buchdruckerei. Annalise Wagner begann bald mit verlegerischer Tätigkeit. Sie gab heimatkundliche Schriften heraus, z. B. erschienen 1938 in ihrem Verlag Walter Karbes "Strelitzer Allerlei", Karl Hackers "Ut Dörp un Stadt, Kasern un Schloß" und die "Wanderungen durch Neustrelitz und Umgebung".
"AWE" - wie sie Freunde und Bekannte nannten, nach dem Kürzel, mit welchem sie gern ihre Pressebeiträge und Briefe unterzeichnete – war eine ausgeprägte lndividualistin, die ziemlich genau wußte, was sie wollte. So geriet sie zwangsläufig mit den beiden deutschen Diktaturen in Konflikt, die im wesentlichen ihre Lebenszeit bestimmten.
Im Juni 1942 wurde sie in Schutzhaft genommen, kam aber durch glückliche Umstände nach einer Woche wieder frei. Die Nazis ließen wenig später ihr Geschäft schließen und beschlagnahmten die Räume. "1943 wurde mein Geschäft auf Befehl des Gauleiters Hildebrandt geschlossen und meine Geschäftswerte enteignet. Meine Geschäftsräume wurden beschlagnahmt und ein Ausweichlager für den Reichsnährstandsverlag eröffnet."
Nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur schloß sie sich den aufbauwilligen Kräften an, wurde Mitglied der Liberal - Demokratischen Partei Deutschlands, Stadtverordnete, Vorsitzende verschiedener Ausschüsse der Stadtparlaments, Mitbegründerin von Kulturbund und Demokratischem Frauenbund. Aber diesem Engagement war kein bleibender Erfolg beschieden. Ihr weit gefächertes Literatur- und Kunstverständnis kollidierte sehr bald mit den immer enger werdenden kulturpolitischen Vorgaben in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR, Differenzen mit den neuen politischen Kräften traten bereits 1948 zu Tage. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen der SED und den Blockparteien betrafen sie persönlich. Ihrer Partei wurde die Zusammenarbeit, die auf antifaschistischer Grundlage entstanden war, aufgekündigt. "Die feigen maßgebenden Leute der LDPD - Ortsgruppe beurlaubten mich sofort, enthoben mich aller Ämter. Ich wurde sogar aus einer Versammlung geholt, als ich gerade am Rednerpult stand und Bericht gab über die eigene Arbeit." 1953 wurde ihre wiedererstandene Buchhandlung abermals geschlossen, allerdings nur für einige Wochen. Auch diese Aktion war politisch motiviert, denn wieder sollten die "falschen Bücher" in den Regalen gestanden haben. Trotzdem wagte Annalise Wagner einen weiteren Anfang und führte ihre Buchhandlung bis Ende der fünfziger Jahre weiter.
Von der Auflösung der ehrwürdigen Mecklenburg-Strelitzschen Landesbibliothek im Jahr 1950 war Annalise Wagner zwar nicht unmittelbar betroffen, aber daraus entstanden weitreichende Folgen für die Zukunft. Walter Karbe (1877 - 1956), jahrzehntelang Konservator des Landesmuseums und Bibliothekar an der Landesbibliothek, besaß erwiesenermaßen einen hohen persönlichen Anteil an der Rettung der Bibliothek in den schwierigen Wochen nach dem 30. April 1945. Im September 1950 mußte er ebenfalls kurzfristig der Parkhaus, das Domizil der Landesbibliothek, räumen, obwohl sich hier noch seine privaten Sammlungen befanden. Diese hatte er hier untergebracht, als die Besatzungsmacht 1945 das Haus seiner Wirtin beschlagnahmte. Nun sah sich die Stadtverwaltung Neustrelitz außerstande, ihm schnell angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. In dieser Situation bot Annalise Wagner Hilfe an, übernahm Walter Karbes Sammlungen in ihr Haus und richtete ihm hier sein "Studio" ein.
Nach dem Tode Walter Karbes erbte sie diese reichhaltige Privatsammlung, setzte Karbes Sammeltätigkeit fort und gründete im Dezember 1956 das Karbe-Wagner-Archiv als öffentlich nutzbares Privatarchiv. Später half sie einem neuen Stadtmuseum auf den Weg und gab seit 1966 die "Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs" heraus. Die ersten Hefte ließ sie noch auf eigene Kosten herstellen. Insgesamt waren 25 Folgen konzipiert, von denen bis 1977 15 Folgen erschienen, 13 noch mit ihrem direkten Zutun. Die Resonanz war sehr positiv. Einige Hefte erreichten in kurzer Zeit drei Auflagen. Das Heft 10 allerdings - "Aus dem alten Neubrandenburg : Teil III" - wird zwar schon 1972 gedruckt, aber erst 1981 zum Verkauf freigegeben.
Ihren Wissensschatz breitete Annalise Wagner gern und uneigennützig aus, vorausgesetzt, sie spürte wirkliches Interesse an und Verantwortung im Umgang mit Geschichte. "Nur der vermag sich die Zukunft zu bauen, der die geschichtliche Vergangenheit trotz kritischer Wertung achtet, der die Eigenart unseres Heimatlandes mit der zwar heute überholten Struktur liebt und sie nicht beschmutzt." Diese nach wie vor aktuelle Sicht auf die Dinge formulierte sie bereits im Jahr 1959. Sie widmete sich den Natur- und Heimatfreunden des Kulturbundes ebenso wie den Kindern oder den Urlaubern. Mit ihnen wanderte sie durch und vor die Stadt. Sie schrieb ungezählte Beiträge für die Regionalzeitungen und fand in der Kultur- und Personengeschichte sowie in der Kunstgeschichte ihre vielfältigen Themen.
1973 beschenkte Annalise Wagner ihre Vaterstadt mit dem Karbe-Wagner-Archiv, ihrem Wohnhaus und dem zugehörigen Grundstück. Anläßlich ihres 70. Geburtstages erhielt sie die Ehrenbürgerwürde der Stadt. Das aber schützte sie nicht davor, ein dreiviertel Jahr später vor die Tür ihres ehemaligen Archivs gesetzt zu werden, in welchem sie noch stundenweise tätig war. Die damit verbundenen Benachteiligungen und Querelen empfand sie als tiefe persönliche Kränkung, welche sie bis zu ihrem Lebensende nicht verkraften konnte. Es schmerzte sie sehr, in der DDR, insbesondere in ihrer engeren Heimat, immer weniger Wirkungsmöglichkeiten zu finden, denn Zeitungsredaktionen, Verlage und so manche andere Tür blieb für sie immer öfter verschlossen. Nur das "Carolinum", die Zeitschrift der Altschülerschaft des Gymnasium Carolinum Neustrelitz, in Göttingen herausgegeben, erwies sich als verläßliches Podium über Jahrzehnte. 64 Aufsätze aus ihrer Feder wurden hier abgedruckt.
Manchen ihrer Texte schrieb sie unter einem beziehungsvollen Pseudonym, welches Landessuperintendent Kurt Winkelmann (1932 - 1996) bei der ersten Verleihung des Annalise-Wagner-Preises im Jahr 1992 aufgriff, als er sagte: "Annalise Wagner, die sich selbst manchmal Anna Eckstein nannte, wurde manchmal zu einem Eckstein, an dem man sich stoßen konnte. Aber auch zu einem Anstoß, der Anregungen vermittelte, die in die Zukunft weisen. Weil sie sich Sorgen machte um die nächste Generation, weil sie aufblicken und zum Ausblick anregen möchte, formulierte sie scharf: 'Aber die Wegwerfgesellschaft in ganz Deutschland wirft nicht nur unmoderne oder kaum gebrauchte Gegenstände über Bord, sondern auch das eigene Leben oder das anderer. Die Sinnlosigkeit eines Lebens ohne ethische Werte und Ziele, ohne die Basis Humanität im wahrsten Wortsinn, ohne gottnahe Menschlichkeitsentwicklung, also ein Leben aus und mit dem Gottgeist, führt zum Abgrund."
Am 26. Juni 1986 verstarb Annalise Wagner einsam in ihrer Wohnung an Herzversagen. Im Kontext zu den wenige Jahre nach ihrem Tode eingetretenen politischen Veränderungen in der DDR betrachtet, die viele ihrer menschlichen Maximen und politischen Auffassungen bestätigten, ist dieser Lebensabend nicht frei von tragischen Momenten. Der Nachlaß ging in Vollzug ihrer Testaments an die damalige Stadt- und Bezirksbibliothek, heute Regionalbibliothek Neubrandenburg. Die Büchersammlung, die archivalischen und antiquarischen Teile des Nachlasses verblieben aber in Neustrelitz. Auf der Grundlage eines Teils des hinterlassenen Barvermögens errichtete die Stadt Neubrandenburg als Trägerin der Regionalbibliothek 1991 die Annalise-Wagner-Stiftung und vergibt nun jährlich den gleichnamigen Literaturpreis. Dieser soll ganz im Sinne Annalise Wagners der Aufarbeitung mecklenburgischer Kultur- und Landesgeschichte dienen und die in der südöstlichen Region ansässigen Autorinnen und Autoren unterstützen.
"Eckstein" kann Annalise Wagner nun nicht mehr sein, dafür aber ein Prüfstein für unsere Toleranz gegenüber einem Leben nach konsequent eigenem Entwurf, für unsere Bereitschaft, "aus den Fehlern der alten Zeit zu lernen", also für unsere Fähigkeit zur historischen Wahrheitsfindung.
Gudrun Mohr (Neubrandenburg) gudrun.mohr@t-online.de
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