Annalise-Wagner-Preisträger 2004

Dr. Wolfgang Mahlow

Laudatio auf Roland Gutsch
anlässlich der Verleihung des Annalise-Wagner-Preises 2004
für den Erzählungsband „Zweieinhalb Tage“, Verlag Steffen, Friedland 2004


Um  „Notgeld“ und „Eisenbahnen in Mecklenburg-Strelitz" ging es bisher, um „Die Anfänge vaterländischen Turnens“, um  „Auswanderung“  und „Theater in Neubrandenburg“. - 2004  aber ist „Literatur“ angesagt.  Das Kuratorium leistet sich zum 101. Geburtstag Annalise Wagners ihren ersten „oder“-Preisträger. Denn wie es die Preisstifterin wollte, können auf ihre Rechnung sachbezogene oder aber eben belletristische Arbeiten ausgezeichnet werden. Auf die Region Mecklenburg-Strelitz sollen sie sich beziehen oder aber eben wenigstens von einem erdacht sein, der in dieser Region lebt. Der Ball müsste doch ins Tor zu rollen sein, mag sich der Neubrandenburger Sportjournalist und Fußballer und Schriftsteller Roland Gutsch gedacht haben. Geschickt umdribbelt er die 40 Mitbewerber  und spielt der Jury seinen Erzählungsband „Zweieinhalb Tage“ zu.– Tor!

Dabei ist eines von vornherein klar: In „Kartoffelkrauttraum“,  „Zweieinhalb Tage“ und „Repliken“ wird nicht vom kleinstädtischen Kopfsteinpflaster erzählt. In den Figuren und ihrer Alltagssprache klingt zwar zuweilen des Autors uckermärkische Geburtsstadt Strasburg nach. Aufs Erzählen davon, auf die Provinzposse, will er sich jedoch nicht beschränken.  Und das hat nichts damit zu tun, dass er seine Helden nach New Orleans, nach Paris oder nach Polen schickt. Wichtig ist vielmehr: In ihren krummen Lebenslinien finden sich Erfahrungen, die über das Individuelle, vor allem aber über das regional Bestimmte hinausreichen. Gerade das aber muss auch Annalise Wagner interessiert haben. Wie hätte sie sich sonst einer Käthe Kollwitz, einem Ernst Barlach,  einem van Gogh annähern können.

Tausammengeknütert sind die drei Texte mit der Komik des Erinnerns. Das verkleidete Erzählen vom gelebten Leben ist witzig, todernst. Unberechenbar. In „Repliken“ will der Pole Marek  den (Ost!)Deutschen Georg, den Sohn des in den Kriegsjahren eingesetzten deutschen Statthalters, wenigstens für einen Schreckmoment die ihm als „Zwangsarbeiter“ von dem heranwachsenden Herrenjungen angetane Demütigung spüren lassen. Dabei wird das Erinnern zunächst unter der Oberfläche harmloser Worte von dem Deutschen thematisiert.  „Marek“ sagt er bei ihrem Wiedersehen nach 56 Jahren, „ ich hab mir überlegt, diese Sache einmal aufzuschreiben, so als Erzählung, verstehst du. Für ein Buch.“ Wer kennt nicht den Seufzer, dass einer einen ganzen Roman über sein Leben schreiben könne. Dass er nicht mehr das Maul halten wolle über das Gestern, wie er es gestern noch  musste. Und tatsächlich tauchen in letzter Zeit – nicht selten im Selbstverlag gedruckt - in unserer Umgebung viele, noch in letzter Minute aufgeschriebene Lebenserinnerungen auf, die bis dahin höchstens zur Familiengeschichte gehörten. Aber alles das ist hier nicht gemeint. Roland Gutsch liebt die Inszenierung. Und er ist empfindlich uff die Wörter, wie Strittmatter sagen würde. Hinter den alltäglichen, belanglosen Redewendungen lebt der Zynismus des Statthaltersohnes fort. Auch nach über fünfzig Jahren noch (oder wieder?) benutzt er den Tod der im Bombenhagel 1945 umgekommenen Schwester für die  Legende vom edlen Deutschen. Was wäre, stellt sich die Frage, ein solches Erinnerungsbuch wert? Ein einfaches „nichts“ ist wohl eine zu schnelle Antwort.

Ganz anders erdacht ist die Erzählung „Zweieinhalb Tage“. Die Straße in St. Denis mit ihren bröckligen, aneinander lehnenden Häusern führt  Fred in „die Galerie der Erinnerung“. Ein Lyrismus bezeichnet das Erzählmuster. In den aufsteigenden Erinnerungsbildern gerät Fred, ein Mann Mitte Vierzig, in eine immer drängendere Auseinandersetzung mit sich selbst. Während eines von Sohn und Schwiegertochter eingerührten Paris-Kurzurlaubs stellt er sich dem Vorwurf, in den Spätjahren der DDR seine Jugendideale verraten zu haben. Zu sein, wie alle. -  Eine Gewöhnlichkeit, die vor allem durch  Irmchen, Ruthchen und Traudchen, „drei reife Damen aus dem Uckermärkischen“ - altersgeil schnatterndes „Gänse-Trio“ und „“Vollwalküren“ in einem - mit Sprachwitz in Szene gesetzt ist.  Ein Sommerfest der Volksmusik.
Oh Champs  Elysées! Kein Wunder, dass Marie, Freds Frau,  aus dem touristischen Pflichtprogramm ausscheren will. Eine Entscheidung allerdings, die nicht nur die sich wie Bolle amüsierende Reisegruppe, sondern dummerweise auch Fred meint. In ihrer Ablehnung der für das gemeine Volk inszenierten Paris-Highlights spiegelt sich ihre Enttäuschung, dass er nicht mehr der anspruchsvolle Architekt ist, sondern nur noch der Chef einer ganz gewöhnlichen Baufirma. Wie auf einem Übergang kreuzen sich Freds zunehmend schonungslosere Erinnerungen mit den satirisch zugespitzten, genau ausgeleuchteten Reisegruppenbildern. Dieser klug ausgetüftelte Ablauf braucht das Gestern und das Heute gleichzeitig. Nur so ist Hoffnung möglich. Auszulöschen allerdings ist das Gewesene nicht. „Meine zerkratzten Augäpfel werden immer Kratzer sehen“, wird gewarnt.

Eine solche Konsequenz bestimmt auch die vorher erwähnte Erzählung „Repliken“. Ausgelöst durch die in allen deutschen Medien lautstark geführte Diskussion um die Zwangsarbeiterentschädigung schwingt sich Georg zum Anwalt Mareks auf. Aber das in Aussicht stehende Geld bedeutet dem „dummen Polen“ wenig. In dem gekonnt wie beiläufig entwickelten Gespräch zweier „alter Freunde“ werden die Gründe für die am Ende stehende Katastrophe offenbar. Die anmaßende Gönnerhaftigkeit des Deutschen ist noch immer die des Statthaltersohnes gegenüber dem ihm ausgelieferten Polen. Doch diesmal hat Marek die Rollen verteilt. „Man muss immer erst selbst betroffen sein, um zu begreifen, Georg“, lautet seine verständliche Geschichtserfahrung. - In der Verallgemeinerung könnte sie nicht durchgehen. Aber gerade dass er, unausgesprochen, solche Widersprüche im Erinnern aufreißt, ist ein Verdienst des Autors. Ein politisches Faktum zitierend,  benutzt Roland Gutsch die hölzerne Sprache der offiziellen Verlautbarungen als satirisches Mittel. Pointiert stellt er sie gegen die emotionsgeladene Erfahrungswelt der Figuren und ist damit ganz im Heute angekommen.

In „Kartoffelkrauttraum“ erzählt ein Erwachsener rückblickend ein Kinderabenteuer aus den sechziger Jahren. Die Mutter hat den Jungen mit gleich zweihundertfünfzig  Mark in der Tasche quer durchs Dorf zu dem einarmigen Leonardt geschickt. Von dem soll er ein Kofferradio holen, das gegen reichlich Wodka bei einem „schmuggelnden Vertreter der stationierten Bruderarmee“ eingetauscht worden war. Der Weg durchs Dorf bietet mannigfaltige Gelegenheit für phantasievoll ausgeschmückte Gefahren. Doch was ein echter Huckleberry Finn ist, der wird damit fertig. Mit wenig Strichen werden kauzige Dorfgestalten porträtiert und launige Damals-Erinnerungen beschworen. Roland Gutsch zeigt auch hier durch Erzählablauf und Erzählersicht, wie literarisches Erinnern funktionieren kann. Denn in Wirklichkeit haben wir es hier mit einem kindlichen Erzähler zu tun, der einen viel später lebenden Erwachsenen mimt, der ein Kind von damals spielt. Ziemlich verrückt? – Na und? Immerhin entsteht daraus eine Menge altkluge Heiterkeit. Kann doch der politische Sinn, der in den auf den Punkt gebrachten  Äußerungen der Erwachsenen liegt, sich einem Achtjährigen noch nicht erschließen. Wohl kaum zu überbieten sind zum Beispiel Opas Kommentare zu den Weltnachrichten: „Watn Scheiß. Die Kommunistn wieda. Der Israelit wieda. Die Welt is varückt. Nüscht jelernt nich.“ – Das Lachen möchte einem im Halse stecken bleiben.

Was unser Geschichtenerzähler nun morgen mit dem Preisgeld anstellt, weiß ich nicht. Paris soll noch immer eine Reise wert sein: mit Irmchen, mit Traudchen, mit Ruthchen – mit allen dreien vielleicht? Für New Orleans, zum alten Huck, wird’s wahrscheinlich nicht ganz reichen. Aber ein ordentlicher Sack Saatkartoffeln im nächsten Frühjahr, der sollte drin sein. Und wenn sie richtig gut stehen, die Kartoffeln, dann nüscht wie wieda reinmaracht in dat Kartoffelkraut.
Meinen herzlichen Glückwunsch!
 

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