Um
„Notgeld“ und „Eisenbahnen in
Mecklenburg-Strelitz" ging es bisher, um „Die Anfänge
vaterländischen Turnens“, um
„Auswanderung“
und „Theater in Neubrandenburg“. - 2004
aber ist „Literatur“ angesagt.
Das Kuratorium leistet sich zum 101. Geburtstag
Annalise Wagners ihren ersten „oder“-Preisträger.
Denn wie es die Preisstifterin wollte, können auf ihre
Rechnung sachbezogene oder
aber eben belletristische Arbeiten ausgezeichnet werden. Auf die Region
Mecklenburg-Strelitz sollen sie sich beziehen oder aber eben wenigstens von einem erdacht sein, der in dieser
Region lebt. Der
Ball müsste doch ins Tor zu rollen sein, mag sich der
Neubrandenburger Sportjournalist und Fußballer und
Schriftsteller Roland Gutsch gedacht haben. Geschickt
umdribbelt er die 40 Mitbewerber
und spielt der Jury seinen Erzählungsband „Zweieinhalb
Tage“ zu.– Tor!
Dabei ist eines von vornherein klar: In
„Kartoffelkrauttraum“,
„Zweieinhalb Tage“ und „Repliken“ wird
nicht vom kleinstädtischen Kopfsteinpflaster erzählt. In
den Figuren und ihrer Alltagssprache klingt zwar zuweilen
des Autors uckermärkische Geburtsstadt Strasburg nach.
Aufs Erzählen davon, auf die Provinzposse, will er sich
jedoch nicht beschränken.
Und das hat nichts damit zu tun, dass er seine
Helden nach New Orleans, nach Paris oder nach Polen
schickt. Wichtig ist vielmehr: In ihren krummen
Lebenslinien finden sich Erfahrungen, die über das
Individuelle, vor allem aber über das regional Bestimmte
hinausreichen. Gerade das aber muss auch Annalise Wagner
interessiert haben. Wie hätte sie sich sonst einer Käthe
Kollwitz, einem Ernst Barlach,
einem van Gogh annähern können.
Tausammengeknütert sind die drei Texte mit der Komik des
Erinnerns. Das verkleidete Erzählen vom gelebten Leben
ist witzig, todernst. Unberechenbar. In „Repliken“
will der Pole Marek den
(Ost!)Deutschen Georg, den Sohn des in den Kriegsjahren
eingesetzten deutschen Statthalters, wenigstens für einen
Schreckmoment die ihm als „Zwangsarbeiter“ von dem
heranwachsenden Herrenjungen angetane Demütigung spüren
lassen. Dabei wird das Erinnern zunächst unter der Oberfläche
harmloser Worte von dem Deutschen thematisiert.
„Marek“ sagt er bei ihrem Wiedersehen nach 56
Jahren, „ ich hab mir überlegt, diese Sache einmal
aufzuschreiben, so als Erzählung, verstehst du. Für ein
Buch.“ Wer kennt nicht den Seufzer, dass einer einen
ganzen Roman über sein Leben schreiben könne. Dass er
nicht mehr das Maul halten wolle über das Gestern, wie er
es gestern noch musste.
Und tatsächlich tauchen in letzter Zeit – nicht selten
im Selbstverlag gedruckt - in unserer Umgebung viele, noch
in letzter Minute aufgeschriebene Lebenserinnerungen auf,
die bis dahin höchstens zur Familiengeschichte gehörten.
Aber alles das ist hier nicht gemeint. Roland Gutsch liebt
die Inszenierung. Und er ist empfindlich uff die Wörter,
wie Strittmatter sagen würde. Hinter den alltäglichen,
belanglosen Redewendungen lebt der Zynismus des
Statthaltersohnes fort. Auch nach über fünfzig Jahren
noch (oder wieder?) benutzt er den Tod der im Bombenhagel
1945 umgekommenen Schwester für die Legende vom edlen Deutschen. Was wäre, stellt sich die
Frage, ein solches Erinnerungsbuch wert? Ein einfaches
„nichts“ ist wohl eine zu schnelle Antwort.
Ganz anders erdacht ist die Erzählung „Zweieinhalb
Tage“. Die Straße in St. Denis mit ihren bröckligen,
aneinander lehnenden Häusern führt
Fred in „die Galerie der Erinnerung“. Ein
Lyrismus bezeichnet das Erzählmuster. In den
aufsteigenden Erinnerungsbildern gerät Fred, ein Mann
Mitte Vierzig, in eine immer drängendere
Auseinandersetzung mit sich selbst. Während eines von
Sohn und Schwiegertochter eingerührten Paris-Kurzurlaubs
stellt er sich dem Vorwurf, in den Spätjahren der DDR
seine Jugendideale verraten zu haben. Zu sein, wie alle. -
Eine Gewöhnlichkeit, die vor allem durch
Irmchen, Ruthchen und Traudchen, „drei reife
Damen aus dem Uckermärkischen“ - altersgeil
schnatterndes „Gänse-Trio“ und „“Vollwalküren“
in einem - mit Sprachwitz in Szene gesetzt ist.
Ein Sommerfest der Volksmusik. Oh
Champs Elysées!
Kein
Wunder, dass Marie, Freds Frau,
aus dem touristischen Pflichtprogramm ausscheren
will. Eine Entscheidung allerdings, die nicht nur die sich
wie Bolle amüsierende Reisegruppe, sondern dummerweise
auch Fred meint. In ihrer Ablehnung der für das gemeine
Volk inszenierten Paris-Highlights spiegelt sich ihre Enttäuschung,
dass er nicht mehr der anspruchsvolle Architekt ist,
sondern nur noch der Chef einer ganz gewöhnlichen
Baufirma. Wie auf einem Übergang kreuzen sich Freds
zunehmend schonungslosere Erinnerungen mit den satirisch
zugespitzten, genau ausgeleuchteten Reisegruppenbildern.
Dieser klug ausgetüftelte Ablauf braucht das Gestern und
das Heute gleichzeitig. Nur so ist Hoffnung möglich.
Auszulöschen allerdings ist das Gewesene nicht. „Meine
zerkratzten Augäpfel werden immer Kratzer sehen“, wird
gewarnt.
Eine solche Konsequenz bestimmt auch die vorher erwähnte
Erzählung „Repliken“. Ausgelöst durch die in allen
deutschen Medien lautstark geführte Diskussion um die
Zwangsarbeiterentschädigung schwingt sich Georg zum
Anwalt Mareks auf. Aber das in Aussicht stehende Geld
bedeutet dem „dummen Polen“ wenig. In dem gekonnt wie
beiläufig entwickelten Gespräch zweier „alter
Freunde“ werden die Gründe für die am Ende stehende
Katastrophe offenbar. Die anmaßende Gönnerhaftigkeit des
Deutschen ist noch immer die des Statthaltersohnes gegenüber
dem ihm ausgelieferten Polen. Doch diesmal hat Marek
die Rollen verteilt. „Man muss immer erst selbst
betroffen sein, um zu begreifen, Georg“, lautet seine
verständliche Geschichtserfahrung. - In der
Verallgemeinerung könnte sie nicht durchgehen. Aber
gerade dass er, unausgesprochen, solche Widersprüche im
Erinnern aufreißt, ist ein Verdienst des Autors. Ein
politisches Faktum zitierend,
benutzt Roland Gutsch die hölzerne Sprache der
offiziellen Verlautbarungen als satirisches Mittel.
Pointiert stellt er sie gegen die emotionsgeladene
Erfahrungswelt der Figuren und ist damit ganz im Heute
angekommen.
In „Kartoffelkrauttraum“ erzählt ein Erwachsener rückblickend
ein Kinderabenteuer aus den sechziger Jahren. Die Mutter
hat den Jungen mit gleich zweihundertfünfzig
Mark in der Tasche quer durchs Dorf zu dem
einarmigen Leonardt geschickt. Von dem soll er ein
Kofferradio holen, das gegen reichlich Wodka bei einem
„schmuggelnden Vertreter der stationierten
Bruderarmee“ eingetauscht worden war. Der Weg durchs
Dorf bietet mannigfaltige Gelegenheit für phantasievoll
ausgeschmückte Gefahren. Doch was ein echter Huckleberry
Finn ist, der wird damit fertig. Mit wenig Strichen werden
kauzige Dorfgestalten porträtiert und launige
Damals-Erinnerungen beschworen. Roland Gutsch zeigt auch
hier durch Erzählablauf und Erzählersicht, wie
literarisches Erinnern funktionieren kann. Denn in
Wirklichkeit haben wir es hier mit einem kindlichen Erzähler
zu tun, der einen viel später lebenden Erwachsenen mimt,
der ein Kind von damals spielt. Ziemlich verrückt? – Na
und? Immerhin entsteht daraus eine Menge altkluge
Heiterkeit. Kann doch der politische Sinn, der in den auf
den Punkt gebrachten
Äußerungen der Erwachsenen liegt, sich einem
Achtjährigen noch nicht erschließen. Wohl kaum zu überbieten
sind zum Beispiel Opas Kommentare zu den Weltnachrichten:
„Watn Scheiß. Die Kommunistn wieda. Der Israelit wieda.
Die Welt is varückt. Nüscht jelernt nich.“ – Das
Lachen möchte einem im Halse stecken bleiben.
Was unser Geschichtenerzähler nun morgen mit dem
Preisgeld anstellt, weiß ich nicht. Paris soll noch immer
eine Reise wert sein: mit Irmchen, mit Traudchen, mit
Ruthchen – mit allen dreien vielleicht? Für New
Orleans, zum alten Huck, wird’s wahrscheinlich nicht
ganz reichen. Aber ein ordentlicher Sack Saatkartoffeln im
nächsten Frühjahr, der sollte drin sein. Und wenn sie
richtig gut stehen, die Kartoffeln, dann nüscht wie wieda
reinmaracht in dat Kartoffelkraut.
Meinen herzlichen Glückwunsch!
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