Laudatio |
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Heide Hampel, Leiterin des Literaturzentrums Neubrandenburg e. V. LAUDATIO auf Christiane Witzke: Domjüch : Erinnerungen an eine Heil- und Pflegeanstalt in Mecklenburg-Strelitz Domjüch - ein geheimnisvoller Name, schwer zu erklären, eine Landschaft mit einem See, ein Gebäudekomplex, eine Idee, ein Zuhause für viele Menschen lange Zeit, ein düsterer Ort, ein wüster Ort der Geschichte. Licht in das Dunkel versuchte die Stadtarchivarin von Neustrelitz und Autorin Christiane Witzke zu bringen. 1950 ist sie in Neustrelitz geboren. In ihrem Elternhaus kam sie früh mit städtischer Geschichte in Berührung, die durch das einfache Weitererzählen ein persönliches Gesicht erhielt. Das junge Mädchen, erzogen im Geist christlicher Wertvorstellungen, fühlte sich angeregt, begann sich zu interessieren und entwickelte ein Gedächtnis für die Besonderheiten und Details, die sie in größere Zusammenhänge einfügen wollte. Die Suche nach einem lebendigen Bild von Geschichte war ihr innerer Antrieb. Nach einer Fachschulausbildung absolvierte sie ein Hochschulstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Abschluß als Diplom-Bibliothekarin. Die Seiteneinsteigerin wurde 1992 Leiterin des Stadtarchivs Neustrelitz, wo sie auch heute noch tätig ist. Ihr praktisches Handwerkzeug als Archivarin aber hatte sie sich im Karbe-Wagner- Archiv Neustrelitz angeeignet - eine große Herausforderung für die Bibliothekarin, ein privat zusammengetragenes Archiv vollgestopft mit Zeugnissen mecklenburgischer Geschichte. Jetzt galt es Schulwissen zu prüfen und zu korrigieren. Die Erkenntnisse überwältigten. Sehen und erfahren, was vergessen worden ist, wo keine Erfahrung weitervermittelt werden konnte zwischen den Generationen; erleben, was Zeitgeist für unwesentlich erklärt. Ein Sachverhalt stand ungeachtet des Zeitgeistes jedoch auch für Christiane Witzke niemals zur Disposition - Archivare sind die Bewahrer von Geschichte, sie sind weder Zensor noch Richter. Welcher Berufsstand kann wohl noch von sich sagen, daß er durch den intensiven Umgang mit der Vergangenheit so weit in die Zukunft hineinarbeitet. Ich erlaube mir, Christiane Witzke zu meiner Generation hinzuzurechnen. Wir haben in vielen Fällen Umwege machen müssen, um zum Ziel zu kommen. Oft waren es jedoch gerade jene scheinbaren Abweichungen, die uns unersetzbare Einblicke gestatteten und mit einem Durchstehvermögen versahen, das seinesgleichen sucht. Unsere Ziele mußten wir immer wieder neu bestimmen, wenn wir wider Erwarten Mühen der Berge und Ebenen hinter uns gelassen hatten. Zweiter Bildungsweg, Kinder und Familie bei meist lebenslanger Berufstätigkeit. Wir sind Spätzünder, was die sogenannte wissenschaftliche Karriere angeht, und doch sollte man immer mit uns rechnen. Inzwischen Mutter zweier Töchter stellte sich Christiane Witzke, jetzt auch beruflich mit ihrem Mann verbunden, ab 1986 den immer wieder aufflackernden Auflösungsbestrebungen des regional so bedeutsamen Karbe-Wagner-Archivs entgegen. Das Bewahren war längst ihre zweite Haut geworden. Nach der Wende, nun schon verantwortlich für das Stadtarchiv von Neustrelitz, versetzt ein Film-Team Christiane Witzke sprichwörtlich einen Schlag. Befaßt mit einem anrührenden Mädchenschicksal, sind Autor und Regisseur einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte auf der Spur; sie suchen nach den Stätten deutscher Euthanasiepolitik und fragen nach Domjüch. Warum weiß hier niemand davon? Das trifft die Archivarin im Innersten. Sie weiß es seit langem, nicht alles und nichts Genaues, doch sie hütet möglicherweise die Zeugen und weiß auch das nicht richtig. Wann sollte sie die Zeit und Kraft finden, neben all dem Alltagsgeschäft, dem Erhalten, Aufbauen, dem Kampf um Selbstverständlichkeiten, bei dem einen leicht das Gefühl beschleicht vom Raub der Lebenskraft durch eine Gesellschaft, der die persönliche Leistung scheinbar nur Last ist, weil sie aus der Bequemlichkeit reißt. Das Bewahren und Behüten schließt das Aneignen und Auswerten ein, das Verbreiten von Wissen und Weitergeben von Erfahrungen im Kampf gegen das Vergessen. Christiane Witzke ist aufgestört, sie sucht und trägt zusammen, spürt Zeitgenossen auf, erhält Hinweise und stöbert weiter, bekommt privates Material und findet neue Anhaltspunkte. Bald ist sie in der Lage, weiterführende Fragen zu formulieren und sie durchlebt den Rausch vom Suchen und Finden, wenn ein Vorgang aus dem Dunkel des Vergessens an die Oberfläche tritt und, einem Puzzle gleich, Stück für Stück das Abbild entsteht - so könnte es gewesen sein. Der Anfang ist gemacht, ein Weg gezeichnet, alle seine noch zu entdeckenden Facetten mögen später andere finden, denn die Beschäftigung mit dem Gestern sichert die Fragen der Zukunft. Auf manche Frage wird es keine Antwort geben. Daneben drängt sich eine Antwort auf, obwohl keiner gefragt hatte. Wie z. B. in der spannenden Geschichte um den Schriftsteller Hans Fallada. Christiane Witzke deckt einen Jahrzehnte durch die Germanisten verbreiteten Irrtum auf, indem sie nachweist, daß der Schriftsteller niemals in Domjüch war, sondern in der Strafanstalt von Strelitz Alt, in der sogenannten "Abteilung Heil- und Pflegeanstalt".Was war geschehen? Hans Fallada, der große Erzähler, hatte im August 1944, in denkbar schlechtem psychischen Zustand, auf seine geschiedene Ehefrau Anna Ditzen geschossen. Was er wirklich wollte, ob es Absicht oder ein Unfall war, ein makabrer Scherz, konnte nie zweifelsfrei aufgeklärt werden, doch alle äußeren Umstände reichten aus, ihn wegen versuchten Mordes in Gewahrsam zu nehmen. Die Erinnerungen an diese Zeit verarbeitet Hans Fallada in seinen Werken "Der Trinker" und "Der Alpdruck". Die genaue Ortsbestimmung, die wahre Grundlage der literarischen Verarbeitung also, ist hier insofern von großer Bedeutung, weil sie Rückschlüsse auf biographische Zusammenhänge zuläßt und neben einem konkretisierten Bild zeitgenössischer Verhältnisse und Umstände einen Mann ins rechte Licht rückt, den ich als Lebensretter des Schriftstellers bezeichnen möchte. Dr. Johannes Hecker ist einunddreißig Jahre alt, ein junger Arzt am Beginn seines Weges, als sich in Deutschland 1933 ein menschenverachtendes und menschenvernichtendes System etabliert. Doch Johannes Hecker hat offenbar sein inneres Wertesystem bereits gründlich verankert. Er fühlt sich seinem Gewissen verpflichtet und sonst niemandem, und sein Gewissen hält ihn an, zu helfen, wo er nur kann, und verbietet ihm zu töten. Als er zehn Jahre später dem Schriftsteller Fallada begegnet, weiß er über die antihumanen Vorgänge seiner Zeit so viel, daß er wohl kaum einen ruhigen Schlaf gehabt haben könnte. Unerkannt ist glücklicher Weise seine persönliche Verbindung zu Mitgliedern der Gruppe um von Stauffenberg geblieben. Christiane Witzke weist minutiös nach, wie Dr. Hecker sich Zeit läßt, sein Fachwissen nutzt, nach Carwitz fährt, sich mit Anna Ditzen verbündet, im Dorf herumhört, was man so spricht über den Fall und einen Weg für den Schriftsteller findet, der ihn an der gefährlichen Einstufung als "unwertes Leben" vorbeiführt. Sterilisation, Wegsperren und Tod wären die grausamen Aussichten für den Inhaftierten gewesen. Hans Fallada darf im Gefängnis bleiben (in diesem Fall im Schutz) und schreiben, und er darf überleben, dank Hecker. Dr. Johannes Hecker überlebt nicht. Der Mann, der sich nichts vorzuwerfen hatte und demzufolge keinen Grund sah, 1945 zu fliehen und sich zu verstecken, im Gegenteil, er tat weiter seine Pflicht als Arzt, wurde im Herbst 1945 verhaftet. Mündliche Aussagen von unabhängigen Zeugen stehen der Aussage von spät aufgefundenen Papieren entgegen, die schlußfolgern lassen, daß Johannes Hecker und sein Pfleger Holst, der ihm schon in Neustrelitz treu zur Seite stand, im Sommer 1946 in Moskau erschossen worden sind. Wie es auch immer war, Johannes Hecker und Holst verschwinden als Opfer in den Wogen der Geschichte. Der Pfleger Holst, ebenfalls mit Falladas Biographie und Werk eng verknüpft, begleitete den Schriftsteller während eines Ausganges im Oktober 1944 nach Carwitz. Bei diesem Besuch muß das sogenannte "Trinkermanuskript" aus dem Gefängnis geschmuggelt worden sein, denn es ist uns erhalten geblieben. Die literarischen Geschichten und die des wirklichen Lebens, es wäre müßig, klären zu wollen, welche von ihnen wohl die spannendsten sind. Beide Formen sind Wirklichkeit, und sie bereichern uns, denn sie führen dem, was uns zu Menschen macht, Nahrung zu, wenn wir sie zur Kenntnis nehmen. In der Begründung der Jury heißt es: Christiane Witzkes Arbeit "Domjüch. Erinnerungen an eine Heil- und Pflegeanstalt in Mecklenburg-Strelitz" ist ein bedeutender Beitrag zur "Aufarbeitung der mecklenburgischen Kulturgeschichte", die zu unterstützen und zu fördern sich die Annalise-Wagner-Stiftung zum Zweck gesetzt hat. Lassen Sie mich bitte zu dem Aspekt der verdienstvollen regionalen Forschung einen weiteren hinzufügen. Christiane Witzke wählt aus und schreibt mit weiblicher Sichtweise, eine Bereicherung der Geschichtsschreibung, denn nur durch die Lebenserfahrung aller Betroffener von Geschichte nähern wir uns einem wirklichkeitsnahen Abbild derselben und bekommen eine Vorstellung von der Entwicklung der Werte, die unser Leben bestimmen. Als herausragendes Beispiel möchte ich die Arbeiten von Dr. Sigrid Damm anführen über Persönlichkeiten des 18./19. Jahrhunderts, allen voran über Christiane Vulpius, die Ehefrau eines Johann Wolfgang von Goethe. Die Auswahl von Christiane Witzke läßt neben den ganz nüchternen Fakten von Geschichte den Alltag und das Agieren der einzelnen Persönlichkeiten gleichberechtigt nacherleben. Dabei läßt sie keinen Zweifel an der Tatsache, daß sie auf Grund von Dokumenten und Zeitzeugen schlußfolgert, sie erzählt keine Läuschen. Aber sie hat das gute Recht, und das nimmt sie sich selbstbewußt, die eigene Betroffenheit in Zustimmung und Abgrenzung durch die individuelle Material- und Zitatenauswahl sprechen zu lassen. Da ist vom Landesherren Friedrich Adolf dem IV. die Rede, der die Verantwortung übernimmt für die Wohlfahrt seiner Schutzbefohlenen. 1808 wird aus Berlin ein Arzt empfohlen, Dr. Hanius, dem man als Zeugnis mit auf den Weg gibt, er sei auch ein "rechtschaffender gut denkender Mensch". Auch der Umgang mit den Kranken über die Jahrzehnte wird uns bekanntgemacht, das Mühen um ihre Bildung, Moralität und Unterhaltung, die Seelsorge an ihnen und die Möglichkeiten, sie arbeiten zu lassen, auf daß sich ihre Persönlichkeit entfalten möge. Eine Idylle möchte man manchmal meinen - nein, ich denke, eine große humane Vision. Unter Einbeziehung neuester technischer Möglichkeiten und moderner Erkenntnisse entstand im Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert in einer gestalteten Park-Gartenlandschaft unserer Region ein Villen- und Pavillonsystem mit moderner Wasserversorgung, Heizung, Elektrizität, Bet- und Festsaal für eine Lebensgemeinschaft Gesunder und Kranker. Dieser Zeit holt sich das einzigartige architektonische Denkmal die Natur zurück. Daß seine Urheber mit ihrer aufopferungsvollen Arbeit, ihren Ideen, Erfahrungen und menschlichen Bewährungen oder auch Versagen nicht im Dunkel der Geschichte versinken, ist der Arbeit von Christiane Witzke zu verdanken. Als sich das nationalsozialistische Regime durch seine aggressive Politik der Kriegsvorbereitung und Kriegführung in wirtschaftliche Schwierigkeiten hinein manipuliert, gerät auch die Idee von Domjüch unter die Räder der Geschichte. In Zeiten knapper Kassen, egal aus welchen Gründen, spart man offensichtlich erst einmal die humanen Grundsätze und Ideale ein. In Domjüch wird der Seelsorger entlassen, vom Zusammenlegen mit anderen Anstalten, vom Schließen und Umfunktionieren ist die Rede, viel wird ausprobiert, Chaos greift um sich und die "unnützen Esser", so die Sprache des dritten Reiches, sind bereits auf dem Wege zur Liquidation. Domjüch ist eine Station auf dem Weg dahin, aber nicht der Endpunkt. Christiane Witzke nimmt uns mit auf die Suche, wenn sie z.B. einen einzigen erhaltenen Meldebogen findet, der als Schreibvorlage diente und an dem sich ein ganzer geschichtlicher Vorgang nebst Verhalten seiner Akteure nachvollziehen läßt. Sie rehabilitiert in der Rekonstruktion der Geschichte von Dr. Johannes Hecker jene Mitglieder eines Berufsstandes, die sich ihrem Eid ohne Wenn und Aber verpflichtet fühlten und nicht dem Zeitgeist entsprechend handelten, sondern allein ihrem Gewissen gefolgt sind. Denn nicht nur die Kranken, auch ihre Beschützer haben das Recht auf die Unantastbarkeit ihrer Würde. Seit der ersten Berührung mit den Ideen Christiane Witzkes um Domjüch war ich von der Arbeit und ihrem Wert für unsere Region überzeugt. Ich danke somit der Annalise - Wagner -Stiftung für das Engagement und der Jury für diese Wahl. Der Autorin gratuliere ich von ganzem Herzen. Heide Hampel Kontakt Heide Hampel, c/o Literaturzentrum Neubrandenburg e. V.: |